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Ich
habe begründet, weshalb ich die globale Lage der Menschheit
für eine kritische halte. Krise bedeutet,
dass die Entwicklung einen Punkt erreicht, von dem aus sie in
unterschiedliche Richtungen kippen kann: in unerwünschte
(„Scheitern“) oder in wünschenswerte
(„Weiterkommen“). Die verschiedenen Möglichkeiten
liegen sehr nahe beieinander, der Ausgang der Krise kann deshalb
nicht vorausgesagt werden. Nicht einmal Wahrscheinlichkeiten für
unterschiedliche Szenarien können in der Krise
„realistisch“ eingeschätzt werden, denn eine
Krise bringt überraschend schnell überraschend neue
Realitäten hervor, die alle angestellten Berechnungen
zunichte machen. Die Krisensituation der menschlichen
Zivilisation stellt sich allerdings so komplex bzw. kompliziert
dar, dass eine wünschenswerte Lösung für viele
sehr realistisch urteilende Menschen nicht mehr vorstellbar ist.
Wie kann ich ihnen gegenüber noch Zuversicht
begründen?
Unsere
Vorstellungen sind begrenzt Unsere
Vorstellungen von den Möglichkeiten – sowohl des
Scheiterns als auch des Weiterkommens – sind sehr
begrenzt. Scheinbare Möglichkeiten des Weiterkommens können
sich als sehr gefährlich erweisen oder als Sackgassen, die
zum Umkehren nötigen. Andrerseits kann mir eine Situationen
nur deshalb ausweglos erscheinen, weil ich die weiterführenden
Möglichkeiten erst dann entdecken kann, wenn ich ihnen nahe
genug gekommen bin. Wir sollten uns die globale Lage der
Menschheit nicht als Sackgasse in einem Labyrinth aus steinernen
Mauern verbildlichen. Wir bewegen uns in einem sehr komplexen,
dynamischen, lebendigen System, in dem Mauern aus Stein und
Beton wenig ausrichten – die am meisten verhärteten,
unflexiblen Strukturen, die uns die globale Lage der Menschheit
als aussichtslos erscheinen lassen, sind möglicherweise die
Vorstellungen in unseren Köpfen. Wir sollten gerade in der
Krise damit rechnen, dass sich sehr unerwartet neue Perspektiven
öffnen, mit denen niemand rechnen konnte.
Große
Veränderungen bahnen sich im Kleinen an In
einem komplexen dynamischen System entstehen große
Veränderungen oft aus unscheinbaren Keimen, aus kleinen
Ansätzen im „richtigen Moment“ (zeitlich und
örtlich); das „richtig“ kann dabei nicht
vorausberechnet werden, es kann sich nur in einer großen
Vielfalt von Versuchen zeigen, es fällt uns gewissermaßen
zu. Unsere Welt ist kein titanisches, schweres Schiff, das
seinen unheilvollen Kurs nicht mehr schnell genug ändern
kann, weil es der Gefahr schon zu nahe ist und es keine Kraft
mehr gibt, die groß genug wäre, um die träge
Masse in eine andere Richtung zu lenken. Wir erschrecken vor
Gefahren, die bedrohlich in Sichtweite kommen und
Unannehmlichkeiten so wahrscheinlich werden lassen, dass sie uns
als unvermeidlich erscheinen. Doch die Welt ist ein komplexes
Geschehen, und das ist nicht mit einer trägen Masse zu
vergleichen. Schon das Erschrecken bewirkt etwas.
Die
Krise eröffnet neue Freiheitsgrade Die
Krise konfrontiert uns mit Möglichkeiten des Absturzes, die
erschreckend wahrscheinlich werden. Der Schrecken und die
emotionale Aufruhr korrodieren unsere Denkzwänge und
Gewohnheiten. Der Absturz selbst ist wahrscheinlich kein
einmaliges Ereignis, das alles zerstört; die globale
Beschleunigungskrise zeigt sich in einer Vielfalt von
Krisenerscheinungen, die immer mehr Menschen in Mitleidenschaft
ziehen und Schmerzen verursachen. Schmerzliche, kritische
Situationen drängen uns nicht selten dazu, Denk- und
Handlungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, die wir bis
dahin gemieden, geschmäht, verboten oder gar nicht gesehen
haben. Somit eröffnet die Krise neue Freiheitsgrade –
zunächst im Denken. Die Not lehrt uns, alte Ideen
loszulassen, wenn sie sich als obsolet erweisen, und „bessere
Ideen“ ernsthaft in Erwägung zu ziehen. „Ernsthaft“
bedeutet, dass sie sich aufs Handeln auswirken.
Die
Komplexität verhindert „Zementierung“ Viele
„reale Verhältnisse“, insbesondere
Machtverhältnisse in der globalen Menschengesellschaft,
erscheinen uns „zementiert“. Doch die Härte des
„Zements“ täuscht. Wir wissen, dass sich in den
Ritzen kompakter und scheinbar lebloser Massen fruchtbarer Staub
fängt und allmählich sich auch wieder Pflanzen
ansiedeln. Wir wissen, dass die Witterung im Lauf der Zeit
Asphaltdecken erodiert und zarten Gewächsen zum Durchbruch
verhilft. Wahrscheinlich muss sich nicht erst ein Erdbeben
ereignen, um die verhärteten Strukturen in unseren Köpfen
und Gesellschaften aufzubrechen. Wahrscheinlich setzt das Beben
der Menschengesellschaft in erträglichen Schüben
genügend erodierende Kräfte frei. Diese Hoffnung
beruht auf der Gewissheit, dass die eigentliche Weltordnung sehr
komplex ist und sich selbst auf kaum vorhersehbare Weise immer
wieder neu organisiert – auch durch das ebenso komplexe
Geschehen in den Köpfen der Menschen. Die dafür
nötigen Freiheitsgrade entstehen ständig aufs Neue
durch unvorhersehbare Ereignisse, durch die eingespielte
Regelkreise immer wieder infrage gestellt werden. Um diese
Tendenz komplexer dynamischer Systeme zur heilsamen
Selbstorganisation zu unterdrücken, die Strukturen „hart“
und alle Freiheitsgrade unter Kontrolle zu halten, muss eine
künstliche Ordnungsmacht enorm viel Energie aufwenden. Im
Zeitalter der globalen Krise wird dies immer schwieriger.
Konstruktive
Prozesse sind vielerorts bereits am Werk Zahllose
Initiativen sind weltweit entstanden und weiter am Entstehen,
die an der Verwirklichung sogenannter Utopien arbeiten, indem
sie „bessere Ideen“ aufgreifen und pionierhaft
erproben. Diese Initiativen wirken zunehmend vernetzt, also sich
gegenseitig verstärkend, und ihre Lernprozesse wirken sich
mehr und mehr auf den kulturellen und politischen Mainstream
aus.
Die
Lernfähigkeit der Menschen ist groß
– andernfalls wären sie nicht so erfolgreich
gewesen. Es sind hauptsächlich die Großhirnfähigkeiten
des Menschen, die ihn so erfolgreich werden ließen, dass
er sogar die Resilienz des globalen Ökosystems bedroht.
Wenn das Lernpotenzial der Menschheit ihrer Fähigkeit,
Entropie zu erzeugen, entspricht, dann ist es nicht
unwahrscheinlich, dass am Rande der eigenen Vernichtung bessere
Ideen nicht nur gefunden, sondern auch verwirklicht werden
können.
Der
Gemeinschaftssinn der Menschen ist groß Soziales
Verhalten ist tief in uns verankert. Wir Menschen sind
gemeinschaftshungrig, wir möchten uns zusammengehörig
fühlen. Das zeigt sich an den vielen gemeinschaftlichen
Aktivitäten und Traditionen, an unserem „Herdenverhalten“
und – in „verdrehter“ Form – auch an
chauvinistischen, faschistischen und rassistischen Entgleisungen
dieser Veranlagung, bei denen das Bedürfnis nach Abgrenzung
pervertiert. Doch der organische Zusammenhang zwischen Einheit
(Gemeinschaft) und Vielfalt (von Untereinheiten) wird von immer
mehr Menschen erkannt.
Sogar
Visionen sind wirksam – weil sich das
Denken sehr stark auf das Handeln auswirkt. Es ist nicht nur das
Sein der Menschen, das ihr Bewusstsein prägt; das
Bewusstsein kann neben den Umständen des Seins auch
Möglichkeiten erwägen und wirkt damit verändernd
auf das Sein zurück. Insbesondere wenn das Sein in eine
kritische Instabilität gerät, können die
Bewegungen des Bewusstseins im Denken ausschlaggebend werden. In
dieser Situation ist es also von Bedeutung, bessere Ideen
wenigstens zu denken, auch wenn sie noch utopisch erscheinen.
Aus dem Denken entsteht Handeln. Auch der Zusammenhang zwischen
Kopf, Herz, Bauch und Hand ist ein komplexer!
Die
„öffentliche Meinung“ ist ein schwingendes
System Der geistige Mainstream, der
vorherrschende „Zeitgeist“, ist ein komplexes
dynamisches und daher sehr wandlungsfähiges System. Was
heute noch „undenkbar“ erscheint, ist morgen
plötzlich in allen Köpfen. Die Einsicht, die ich mir
selbst zutraue, darf ich auch anderen zutrauen; das, was ich als
„meine“ Einsicht erfahre, besteht überwiegend
aus Gedanken, die ich von anderen übernommen habe.
„Einsicht“ ist etwas Diffundierendes und
Ansteckendes. Es ist daher möglich, dass eine entscheidende
Mehrheit der Menschen – auch in den noch wohlhabenden
bürgerlichen Demokratien! – über die Absurdität
der Systemzwänge des business as usual so weit
aufgeklärt und so politisch aktiv wird, dass die Macht der
Besitzenden überwunden und die Rahmenbedingungen der
Wirtschaft auf dem friedlichen Wege politischer
Mehrheitsentscheidung geändert werden können.
Fazit Die
beängstigende Macht der Umstände beginnt im Zeitalter
der globalen Beschleunigungskrise zu bröckeln. Die Macht
der Gewohnheiten oder der totalitären Ordnung wird durch
zunehmend chaotische Ereignissen destabilisiert. Auch hier
können schon kleine Einflüsse neue
Entwicklungsrichtungen bewirken und Sach- oder andere Zwänge
aufsprengen. Veränderungen der Gleichgewichtslagen werden
wahrscheinlich. Mit dem Bröckeln der alten Strukturen nimmt
auch die Hektik der Ausbesserungsarbeiten zu. Vermutlich werden
noch einige der alten Gebäude – der alten Hierarchien
und Weltbilder – einstürzen müssen, bevor die
notwendige Sanierung der Fundamente in die Wege geleitet werden
kann. Es ist jedoch gar nicht so unwahrscheinlich, dass das zu
befürchtende Chaos der Menschengesellschaft die schlimmsten
Manipulations- und Ausbeutungssysteme zusammenbrechen lässt,
bevor Gaias Menschenfreundlichkeit restlos überlastet ist.
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