langelieder > Bücherliste > Bauer 2007




Joachim Bauer
Prinzip Menschlichkeit

Warum wir von Natur aus kooperieren


Hamburg 2007 (Hoffmann und Campe); 256 Seiten; ISBN: 978-3-455-50017-2






In der internationalen neurobiologischen Forschung ist zunehmend vom »social brain« die Rede. Die Erkenntnis: Wir sind nicht primär auf Egoismus und Konkurrenz eingestellt, sondern auf Kooperation und Resonanz. Das Gehirn belohnt gelungenes Miteinander durch Ausschüttung von Botenstoffen, die gute Gefühle und Gesundheit erzeugen. Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Zuwendung, Wertschätzung und erst recht Liebe zu finden und zu geben. Was wir im Alltag tun, wird meist direkt oder indirekt dadurch bestimmt, dass wir sozialen Kontakt gewinnen oder erhalten wollen. Bei dauerhaft gestörten Beziehungen oder dem Verlust von Bindungen kann es zu einem »Absturz« der Motivationssysteme kommen. Dann – und erst dann – setzen Aggressionen ein. Joachim Bauer beschreibt nicht nur, wie das »social brain« funktioniert, sondern führt dem Leser auch vor Augen, welche Konsequenzen diese Erkenntnisse für das menschliche Leben haben – von der Erziehung über die berufliche Kommunikation bis hin zur Frage von Krieg und Frieden.


Joachim Bauer


Jahrgang 1951, war nach seinem Medizinstudium viele Jahre in der molekular- und neurobiologischen Forschung tätig. Er wirkte als Projektleiter in drei Sonderforschungsbereichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit und beschäftigte sich mit Genen des Immunsystems, später mit der Regulation von Genen im Zentralnervensystem. Bauer forschte in den USA am Mount Sinai Medical Center in New York. 1996 erhielt er den renommierten Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie. Bauer ist zweifach habilitiert (Innere Medizin und Psychiatrie) und arbeitet heute als Universitätsprofessor in der Abteilung für Psychosomatische Medizin des Uniklinikums in Freiburg. Buchveröffentlichungen zu wissenschaftlichen Themen: „Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“ (2002), „Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone“ (2005), „Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren“ (2006).


Inhaltsverzeichnis


1.

Leitmotive des Lebens: Kampf oder Kooperation?




Die Macht, die von Menschenbildern ausgeht – Der Paukenschlag des Jahres 1859 – Wie Charles Darwin das Menschenbild revolutionierte – Das Menschenbild der Soziobiologie – Die moderne Neurobiologie – Keine Sympathien für Kreationismus und „intelligent design“







2.

Der Mensch: Für gelingende Beziehungen konstruiert




Die Antriebsaggregate des Lebens – Die Entdeckung der Motivationssysteme – Treibstoff der Motivationssysteme: Die „Dopingdroge“ Dopamin - „Neurobiologische Korruption“: Motivationssysteme und Suchtdrogen – Von den Motivationssystemen zur Entdeckung des „social brain“ – Das natürliche Ziel von Motivation: Menschliche Zuwendung – Die intensivste Form der Zuwendung: Liebe – Soziale Resonanz als neurobiologisches Motiv – Spezialisiert auf Bindung und Vertrauen: Der Botenstoff Oxytozin – Leben mit und ohne Oxytozin: der „Coolidge-Effekt“ – Warum Bindungen gesund erhalten: Oxytozin als Gesundheitsdroge – Die Rolle der Gene: Sind zwischenmenschliche Bindungen „angeboren“? – Von Geburt an auf Zuwendung eingestellt – Menschliche Zuwendung als Medikament: Die körpereigenen Opioide – Neugeborene unter „Drogeneinfluss“: Liebe als Beruhigungsmittel – Wenn Beziehungen nicht gelingen: Angst, Schmertz und die biologische Stressreaktion – Einbruch der Motivation beim Verlust geliebter Menschen – Das Gedächtnis des Körpers: Langzeiteffekte von Einsamkeit – Beziehungen als Gesundheitsschutz: Einsamkeit als Krankheitsfaktor – Die Motive des Beziehungswesens Mensch: Zuwendung und Kooperation







3.

Die Bedeutung der Aggression




Aggression durch Zurückweisung: „If you can‘t join them, beat them“ – Aggressionsursache Schmerz – „Geborene Verbrecher“? Die Bedeutung von Lebenserfahrungen für die Entwicklung von Aggression – Entstehung von Aggression: Fünf Varianten – Männliche und weibliche Aggression – Aggression in Partnerschaft und Familie – Aggression: Weder Bestimmung des Menschen noch sein Schicksal







4.

Darwins „war of nature“ und das Prinzip der Unmenschlichkeit




Darwins Konzept vom Kampf als Grundprinzip der Natur – Hintergründe für Darwins Denken: Die Industriestaaten als eine Art Dinosaurier der Gegenwart? – Die Fehldeutung von Kampf und Selektion als treibende Kraft der Evolution: Ein Gleichnis – Auswirkungen Darwins in Deutschland – „Das Individuum ist nichts, die Art ist alles“ – Die Idee vom „höherwertigen“ Menschen: Eugenik und Auslese durch Krieg – Darwins Einfluss auf das Denken in der Medizin – Die Medizin als selbsternannte Wächterin der Erbanlagen – Darwin heute: Warum sein Modell untauglich ist – Darwinismus als „scientific correctness“ – Das „Gravitationsgesetz lebender Systeme“: Zugewandtheit, Spiegelung und Resonanz







5.

Soziobiologische Sciense-Fiction oder: Warum Gene nicht egoistisch sind




Das egoistische Gen“: Wenn Science-Fiction zu Science wird – Du bist nichts, dein Gen ist alles – Die Ausblendung der Kooperation bei der Entwicklung von komplexen biologischen Systemen – „Das Gen ist die Grundlage des Eigennutzes“ – Sexuelle Fortpflanzung als „Problem“ der Soziobiologie – Der gefährliche Wohlfahrtsstaat: Ein soziobiologisches „Gen für Unmäßigkeit“ – Soziobiologische Science-Fiction: „Meme“ und die Wiederentdeckung von Hegels Weltgeist – Science statt Science-Fiction: Der Beginn des Lebens und die Entstehung der Gene – Phänomenale Kooperation am Beginn der Evolution: Die Endosymbiose – Gene als „genetic gypsies“: Nichtsesshaftigkeit in der Frühzeit der Evolution – Wie unsere Gene wirklich funktionieren – Kommunikation zwischen Genen und Umwelt:Gene werden reguliert – Das „Gedächtnis“ der Gene: Die Epigenetik – Epigenetik: Biologische und psychische Prägung durch Umwelterfahrungen – Epigenetik als Krankheitsursache: Depression und Krebserkrankungen – Gene und Epigenetik: Was vererbt wird und was nicht – Der biologische Fingerabdruck und die „zweite Chance“ des Lebens – Schlussfolgerungen: Was ist die Botschaft?







6.

Die Erforschung der Kooperation: Spieltheorie und Beziehungsanalyse




Kooperation auf dem Prüfstand: Das Experimentallabor der Spieltheorie – Eine zwischenmenschliche Situation, wie sie das Leben schreibt: Das „Gefangenen-Dilemma“ – „Rational choice“ auf dem Prüfstand: Sind Menschen „zweckrationale Entscheider“? – Wo Vertrauen entsteht: Die „zwischenmenschliche Beziehung“ als Forschungsgegenstand – Ungleichgewichte in Beziehungen: Das Erfordernis der Komplementarität – Schlussfolgerungen: Gelingende Beziehungen als zentrales Kriterium menschlichen Zusammenlebens







7.

Kooperation als gesellschaftliches Projekt




Kampf und Auslese versus Kooperation – Kooperative Beziehungen im Wirtschaftsleben: Kollegialität und ethisches Management – Beziehung und Motivation in den Schulen – Erziehung zu sozialer Kompetenz – Chancen für eine effektivere Medizin – Kultur der Kooperation







8.

Nachtrag: Kooperation, ganz unwissenschaftlich







9.

Danksagungen







Literatur



Register


Leseprobe


1. Leitmotive des Lebens: Kampf oder Kooperation?






Zum Besten, was man in New York gelegentlich über einen anderen hören kann, gehört der mit Hochachtung gesprochene Satz: »He (she) is a mensch.« Die Bezeichnung entspricht einer Art Nobelpreis der persönlichen Wertschätzung. Einzelne Personen mögen die Voraussetzungen für dieses Prädikat erfüllen. Was wir jedoch von Natur aus sind, war immer umstritten. Die Frage, ob Menschen von Natur aus auf Kampf oder Menschlichkeit ausgerichtete Wesen seien, wird auch in unserer Zeit kontrovers gesehen. In jüngster Zeit hat eine Serie neurobiologischer Beobachtungen ein neues Bild entstehen lassen. Es beschreibt den Menschen als ein Wesen, dessen zentrale Motivationen auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehungen gerichtet sind. Die neuen Erkenntnisse und sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen sind das Thema dieses Buches.

Neue Erkenntnisse werfen immer auch Fragen auf: Wie steht es um den Menschen im »Kampf ums Dasein«, was bedeuten die jüngsten Beobachtungen für jenes Menschenbild, das sich im Gefolge Charles Darwins entwickelt hat? Was ist aus unseren »egoistischen Genen« geworden, von denen uns die Soziobiologen um Richard Dawkins erzählt haben? Welchen Stellenwert hat, wenn der Mensch ein im Innersten auf Zuwendung und Kooperation gepoltes Wesen ist, die Aggression, dieses markante und so bedrohliche Faktum unseres Dasein? Ihr Stellenwert wird auf der Basis von wissenschaftlichen Untersuchungen, die seit kurzem auch zu dieser Frage vorliegen, neu zu bestimmen sein. Schließlich bleibt zu klären, welche Schlussfolgerungen sich aus dem »Prinzip Menschlichkeit« für die gesellschaftlichen Lebensbereiche ergeben, für die Wirtschaft, für das Leben am Arbeitsplatz, aber auch für die Pädagogik, den Bildungsbereich und die Medizin. Bis zu diesen Fragen hin wird das Buch den Bogen spannen.

Die Macht, die von Menschenbildern ausgeht

Anthropologische Vorstellungen bzw. Menschenbilder sind mehr als nur Glaubenssache. Sie bestimmen nicht nur, wie wir uns selbst und andere sehen, sondern auch, wie wir miteinander umgehen. Und damit haben sie weit reichende Auswirkungen darauf, wie wir leben. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Menschenbilder zu einem nicht geringen Teil mit den Erfahrungen zusammenhängen, die wir mit anderen - vielleicht auch mit uns selbst - gemacht haben. Auch die Art und Weise, wie andere uns gesehen haben oder sehen, kann unser Denken über den Menschen prägen. Und nicht zuletzt beeinflussen Wünsche, wie wir uns und andere gern sehen wollen, unser Menschenbild. Den meisten am nächsten sein dürfte aber das, was sie unmittelbar in sich fühlen. Nicht jeder empfindet grundsätzlich Sympathie für andere Menschen und findet immer zumindest halbwegs gute Lösungen, falls ihm jemand Schwierigkeiten bereitet. Viele verbinden mit anderen Menschen Erfahrungen von Leid oder erleben Angst. Noch quälender kann es sein, mit immer wieder auftauchenden eigenen Gefühlen von Neid, Zorn und gar Hass konfrontiert zu sein, wenn es um andere Menschen geht. Schlechte Gefühle können verstörend und irritierend sein: Ist das »normal«? Gehören solche Gefühle zu mir selbst, bin ich das, was ich fühle? Oder sind sie von außen bestimmt, hervorgerufen durch das, was mir widerfahren ist? Falls ja, so würde sich die Frage stellen, ob die Entwicklung eines negativen Menschenbildes die einzig mögliche Reaktion ist oder ob es andere, positivere Arten der Verarbeitung negativer Erfahrungen gibt. Dies alles sind schwierige, für manche Menschen auch quälende Fragen.

Menschenbilder mögen die Folge von Erfahrungen sein, noch wichtiger aber ist, was sie ihrerseits bewirken. Sie bestimmen, ob wir anderen vertrauen oder nicht, was wir von anderen erwarten und wie wir auf andere reagieren. Eine tief verwurzelte Grundüberzeugung, dass Menschen von Natur aus zur Bosheit neigen, wird - sagen wir - einen Lehrer nicht nur im Einzelfall auf eine bestimmte Weise auf ein Kind reagieren lassen, das zum Beispiel einen Fehler gemacht hat, sie wird vielmehr seinen gesamten Erziehungsstil prägen. Die Annahme, Menschen seien grundsätzlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht und bereit, sich dazu jedes erlaubten (und vielleicht auch nicht erlaubten) Mittels zu bedienen, wird einen Vorgesetzten nicht nur in einer konkreten Situation auf Mitarbeiter reagieren lassen, die ihm zum Beispiel Probleme bereitet haben, sondern sie wird den gesamten Verhaltens- oder Führungsstil an diesem Arbeitsplatz bestimmen. Bei näherer Betrachtung kann sich dabei zeigen, dass der Stil des Umgangs mit Menschen manchmal die Kraft einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung hat. Andere mit Vertrauen zu behandeln, kann vertrauensvolle Verhaltensweisen begünstigen. Misstrauen und negative Vorannahmen können andererseits dazu führen, dass sie genau das auslösen, was sie unterstellen. Aber auch darauf ist nicht immer Verlass. Jedermann hat die Erfahrung gemacht, dass Vertrauen nicht immer mit Vertrauen beantwortet wird. Sollten uns negative Erfahrungen veranlassen, ein generell negatives Menschenbild zu entwickeln? Was aber würde dann passieren, wenn wir mit dieser Haltung nun wieder Menschen begegnen, die bereit wären, auf Vertrauen mit Vertrauen zu reagieren? Wir sehen, die Argumentation dreht sich im Kreis. Wir brauchen Rat »von außen«. Doch wer hat die »Oberhoheit« über die anthropologischen Modelle, die wir uns machen und nach denen wir leben können? Dieses Buch wird keine solche Oberhohheit beanspruchen. Es wird jedoch eine Reihe wichtiger neuer Erkenntnisse darlegen, die dafür sprechen, dass wir - und warum wir - von Natur aus »menschliche« Wesen sind, und es wird zeigen, welche Chancen sich daraus ergeben.

Der Paukenschlag des Jahres 1859

In der Frage, wie wir von Natur aus sind und wie wir leben sollten, hatten Theologie und Kirchen über Jahrhunderte das Monopol. Vor etwa zweihundert Jahren, in der Zeit der Aufklärung, begann sich in dieser Hinsicht etwas zu ändern: Der traditionelle Anspruch der Kirche, die Entstehung der Erde, die Naturgeschichte, vor allem aber das Menschenbild und die Regeln des Zusammenlebens erklären und bestimmen zu können, ging in andere Hände über. Angestoßen durch die kritischen Denker der Aufklärung, kam es in Fragen des Menschenbildes zur Übergabe der Oberhoheit der Kirchen an die Eigenverantwortung des Menschen, an seine Vernunft. Die ethische Grundregel der Aufklärung lautete: Handle nach Regeln, nach denen auch alle anderen handeln könnten. Dieser Grundsatz wurde als der »kategorische Imperativ« Immanuel Kants, im angloamerikanischen Sprachraum auch als »Golden Rule« (Goldene Regel) bezeichnet. Allerdings blieb der neue ethische Standard der

Aufklärung, obwohl er sich gegen die Vormundschaft der Kirchen richtete und die Verantwortung in die Hände des Menschen selbst legte, letztlich doch auf dem Boden der jüdisch-christlichen Tradition. Denn von dort kam her, was auch in der Aufklärung weiterhin Geltung hatte: das Recht eines jeden auf Leben und die Pflicht zur Unterstützung der Schwachen. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Ein Paukenschlag im Jahre 1859 veränderte die Situation: Charles Darwin publizierte seinen Bestseller »Über die Entstehung der Arten«. Die Erstauflage des Buches war innerhalb kurzer Zeit vergriffen. Zwölf Jahre später legte Darwin, der ursprünglich Theologe war und erst in späteren Jahren zum Naturforscher wurde, mit einem zweiten Werk nach: 1871 erschien sein zweiter Bestseller, »Die Abstammung des Menschen«.

(...)


Siehe auch


Joachim Bauer: Das kooperative GenAbschied vom Darwinismus



Joachim Bauer: SchmerzgrenzeVom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt