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Joachim Bauer
Das kooperative Gen

Abschied vom Darwinismus


Hamburg 2008 (Hoffmann und Campe); 223 Seiten; ISBN: 978-3-455-50085-1






Vor über 3,5 Milliarden Jahren entstand auf unserem Planeten Leben. Vor 600 Millionen Jahren begann ein Prozess, der aus einzelligen Organismen schließlich den Menschen hervorgehen ließ. Was hat sich entlang dieser ungeheuren Zeitachse in den Genen, den Hauptakteuren des Geschehens, abgespielt? Wie wurden wir, was wir sind?

Nachdem das Erbgut des Menschen und vieler weiterer Spezies vollständig entschlüsselt werden konnte, vollzieht sich in der Biologie eine Revolution des Denkens. Erstmals lässt sich vergleichen, wie sich Gene im Verlauf der Evolution entwickelt haben. Erkenntnisse, die sich aus diesem Vergleich ergeben, stellen bislang gültige zentrale Dogmen des großen Biologen Charles Darwin und seiner neodarwinistischen Nachfolger infrage. Joachim Bauer, Mediziner und selbst jahrelang in der Genforschung tätig, zeigt: Das System der Gene eines jeden Organismus, das Genom, verfügt über Werkzeuge, mit denen es sich selbst – in Richtung zunehmender Komplexität – verändern kann. Anders, als von Darwin postuliert, entstanden neue Arten nicht im Zuge eines langsam-kontinuierlichen, zufallsgesteuerten Werdens, sondern als Folge von genomischen Umbauschüben. Diese wiederum waren Reaktionen auf globale Bedrohungen, mit denen das „Projekt Leben“ mehrfach konfrontiert wurde.

Dieses Buch stellt Ergebnisse der modernen Genforschung in einer auch für Nichtfachleute verständlichen Weise dar. Die Botschaft lautet: Lebewesen mitsamt ihren Genen sind keine steuerlos auf dem Fluss der Erdgeschichte treibenden Objekte, sondern Akteure der Evolution. Als deren Grundprinzipien erweisen sich Kooperation, Kommunikation und Kreativität.


Joachim Bauer


Jahrgang 1951, war nach seinem Medizinstudium viele Jahre in der molekular- und neurobiologischen Forschung tätig. Er wirkte als Projektleiter in drei Sonderforschungsbereichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit und beschäftigte sich mit Genen des Immunsystems, später mit der Regulation von Genen im Zentralnervensystem. Bauer forschte in den USA am Mount Sinai Medical Center in New York. 1996 erhielt er den renommierten Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie. Bauer ist zweifach habilitiert (Innere Medizin und Psychiatrie) und arbeitet heute als Universitätsprofessor in der Abteilung für Psychosomatische Medizin des Uniklinikums in Freiburg. Buchveröffentlichungen zu wissenschaftlichen Themen: „Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“ (2002), „Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone“ (2005), „Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren“ (2006).


Inhaltsverzeichnis


Vorwort







1.

Einführung







2.

Eine Revolution biologischen Denkens: Genom und Zelle als kreatives System







3.

Gene: Weder Ursprung des Lebens noch autonome Akteure
Von der RNS-Welt zur Welt der DNS-Gene







4.

Voraussetzung biologischer Körper: Die „moderne“ Zelle







5.

Kambrische Explosion“: Die Entwicklung von Bauplänen für Körper







6.

Wie Arten entstehen: Die „Werkstatt“ der Evolution
Aktiv bewahrte Stabilität
Veränderungen der „genomischen Architektur“ I: Duplikation, Ortswechsel und Rekombination von Genen
Auslöser genomischer Entwicklungsschübe: Stressoren
Massenhaftes Artensterben und Entwicklungsschübe: Gibt es Zyklen?
Veränderungen der „genomischen Architektur“ II: Zwischen „Zufall“ und biologischer Bahnung
Die Bedeutung von Mutationen (Single Nucleotide Polymorphisms / SNPs)
Komplexitätszuwachs durch „Exaption“: Biologische Kreativität versus Selektionsdruck
„Evolution live“: Ein besonderer afrikanischer Fisch







7.

Der Weg der Säugetiere: Vom „Eomaia“ zum Menschen
Der Mensch: Aus genetischer Sicht ein variantenreiches Wesen







8.

Egoistische Gene“ und der „Aggressionstrieb“: Anthropologische Konzepte als sich selbst erfüllende Prophezeiungen







9.

Charles Darwin: Theoriebildung, psychologische Schriften und Lebensweg
Biologische Grundmotive bei Darwin: Vitalität durch Wohlergehen und Bindung
Die biologische Bedeutung von Kommunikation und Empathie
Darwin als Psychologe: Die „Seele“ und ihr Einfluss auf den Körper
Darwins Leben







10.

Nach Darwin: Umrisse einer neuen Theorie
Zur Beziehung zwischen Biologie und den Geisteswissenschaften







Zitierte Literatur / Wissenschaftliche Publikationen des Autors



Register


Leseprobe


Vorwort






Als der sechzehnjährige Abiturient Max Planck im Jahre 1874 darüber nachdachte, was er studieren solle, erbat er sich, der Physik zuneigend, den Rat einer Autorität auf diesem Gebiet. Die Empfehlung, die ihm vom Physik-Ordinarius Philipp von Jolly zuteil wurde, ließ diesen später in die Geschichte eingehen, denn er riet Planck von seinem Wunschfach ab mit der Begründung, hier sei schon fast alles erforscht, es müssten nur noch einige unbedeutende Lücken geschlossen werden. Nun wäre aus Max Planck auch ohne die Physik etwas geworden, denn er war vielseitig begabt. Der junge Klavier- und Orgelspieler erwog damals ernsthaft, Berufsmusiker zu werden. Der ihm erteilte Rat aber zeigt, wie leicht wir in der Wissenschaft dazu neigen, uns auf die Verwaltung von Wissen zu beschränken, gemütlich gewordene Positionen zu verteidigen und die wissenschaftliche Neugier einzuschläfern. Sicher, exzellente Wissenschaft braucht gute Ausstattung und Geld. Oft hindern uns jedoch weniger mangelnde finanzielle Ressourcen als vielmehr intellektuelle Bequemlichkeit, Dogmatismus, und fehlende Vorstellungskraft daran, in innovative Gebiete und zu wissenschaftlicher Exzellenz vorzustoßen.

Auch die Biomedizin ist versucht, sich in einer gemütlichen Vorstellungswelt einzurichten: Gene, so das sogenannte »zentrale Dogma« der Biologie, lassen Proteine entstehen, Letztere regulieren den Stoffwechsel und bestimmen, zu was für einem Lebewesen ein Organismus heranwächst, wie es aussieht, wie es sich verhält und welcher Gesundheit es sich erfreuen darf. Gene, im Verlauf der Evolution angeblich zufällig entstandene Instanzen, seien die autonomen, alles bestimmenden Herrscher. War es im vorwissenschaftlichen Zeitalter noch der Wille Gottes, der jeden Grashalm wachsen und jede Krankheit entstehen ließ, so wird heute zu so gut wie allen biologischen Phänomenen die erhellende Auskunft erteilt, sie lägen »in den Genen« begründet. Demnach machen die »guten« oder »weniger guten« Erbanlagen den Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit aus. Die Einsicht, dass Gene in ihrer Aktivität fortlaufend durch Umweltfaktoren und Lebensstile reguliert werden und dass dies den weitaus größten Einfluss darauf hat, ob wir gesund bleiben, konnte in unseren Breiten nur langsam Fuß fassen (wie sich unter anderem an der zunächst skeptischen Reaktion auf mein 2002 erschienenes Buch »Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern« zeigte). Doch wir werden uns mit weiteren, noch weit überraschenderen Einsichten anzufreunden haben.

Unseren Vorstellungen über das Leben steht eine der gewaltigsten Umbruchphasen bevor, eine Revolution des bisherigen, durch Darwinismus und Soziobiologie eingeengten biologischen Denkens. Ausgangspunkt sind Entdeckungen, die sich aus der vollständigen Entschlüsselung der Genome verschiedener Spezies – den Menschen eingeschlossen – ergeben haben. Die vor wenigen Jahren gelungene »Entzifferung« unseres Erbgutes, von der viele nicht mehr als die krönende Absegnung der bereits bestehenden Auffassungen von »den Genen« erhofft hatten, stößt gerade genau diese Modelle um. Sie führt zu der Erkenntnis, dass Genome mehr sind als eine Ansammlung von einigen tausend Genen. Es sind Systeme, die nicht nur Gene, sondern molekulare Werkzeuge enthalten, mit denen sie ihre eigene Architektur verändern können. Veränderungen des Genoms sind nicht dem reinen Zufall überlassen, wie man bisher glaubte, sondern folgen Regeln, die im biologischen System selbst begründet liegen. Was die Evolution vorantrieb und neue Arten entstehen ließ, waren vom Genom selbsttätig vollzogene, schubweise Umstrukturierungen seiner Architektur, mit denen es aktiv auf ökologische, vor allem schwere klimatische Stressoren reagierte. Wer befürchtet haben sollte, das Zeitalter der Biologie stehe kurz vor der endgültigen Klärung aller Fragen, sei beruhigt: Die vielleicht aufregendste Phase der Biomedizin liegt noch vor uns.

Freiburg, Juli 2008
Joachim Bauer


Siehe auch


Joachim Bauer: Prinzip MenschlichkeitWarum wir von Natur aus kooperieren



Joachim Bauer: SchmerzgrenzeVom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt