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Christian Felber
50 Vorschläge für eine gerechtere Welt

Gegen Konzernmacht und Kapitalismus


Wien 2006 (Deuticke/Zsolnay); 355 Seiten; ISBN 3-552-06040-5 / 978-3-552-06040-1








Der globalisierungskritischen Bewegung wird immer wieder vorgeworfen, sie würde nur Probleme aufzeigen, aber keine Lösungen bieten. Christian Felber entkräftet diesen Vorwurf eindrucksvoll: Er präsentiert 50 konkrete Alternativen zur neoliberalen Globalisierung und zur Ökonomisierung unseres Lebens. Die Lösungsmodelle reichen von der Neugestaltung der Finanzmärkte und des Welthandels über verbindliche Regeln für Konzerne bis hin zu sozialer Sicherheit und globaler Steuergerechtigkeit. Ein flammendes Plädoyer dafür, die Gestattung unseres Zusammenlebens aktiv in die Hand zu nehmen und die Spielregeln neu zu schreiben.


Christian Felber


Christian Felber, geboren 1972 in Salzburg, studierte Romanische Philologie und Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie in Wien und Madrid, seit 1996 freier Pubtizist und Autor, seit 2000 engagiert bei Attac Österreich, das er mitbegründet und mit aufgebaut hat. Er ist ein gefragter Referent zu Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen. Veröffentlichungen u. a.: »Schwarzbuch Privatisierung« (gem. mit Michel Reimon, 2003); »Das kritische EU-Buch« (hrsg. von Attac, 2006), »Neue Werte für die Wirtschaft« (2008)


Inhaltsverzeichnis



Vorwort








Was ist Globalisierung?








Bändigung der Finanzmärkte



1

Ein neues Bretton Woods



2

Reform des Internationalen Währungsfonds



3

Kapitalverkehrskontrollen



4

Verbot von Hochrenditefonds




Zinsen runterl



5

Schengen für das Kapital



6

Demokratisierung der EZB



7

Steuerliche Korrektur der Umverteilung durch den Zins




Börsen auf euren Platz!



8

Alternative Kapitalmarktoffensive



9

Shareholdervalue brechen



10

Betriebsklimabonus statt Stock Options




Entwicklung braucht Entschuldung



11

Umfassende Entschuldung



12

Faires und transparentes Schiedsverfahren



13

Reform der Weltbank




Entwicklungsfinanzierung



14

0,7 Prozent Entwicklungshilfe



15

Globales Management der Rohstoffpreise



16

Globale Steuern



17

Loseisen der Devisenreserven




Globale Steuergerechtigkeit



18

Steueroasen schließen



19

Global einheitliche Konzernbesteuerung



20

Weltsteuerbehörde




Stopp Standortwettbewerb



21

Kooperation statt Konkurrenz




Faire Spielregeln für den Welthandel



22

Freier Handel nur zwischen Gleichen



23

Ökonomische Subsidiarität



24

Vorrang für Fair Trade




Ernährungssouveränität



25

Ernährungssouveränität statt Freihandel



26

Umstellung der Agrarförderungen



27

Landreformen




Technologietransfer statt globalem Patentschutz



28

Solidarischer Technologietransfer



29

Keine Patente auf Leben



30

Freie Software für freie Menschen




Zähmung von Konzernen



31

Verbindliche Regeln für Konzerne



32

Standortschutzabkommen



33

Globale Fusionskontrolle



34

Demokratisierung und Größenschranke für Unternehmen




Soziale Sicherheit



35

Sichere Renten



36

Finanzierung der Gesundheitsversorgung



37

Grundsicherung: Null Armut!



38

20-Stunden-Woche




Moderne Allmenden



39

Demokratisches Kleeblatt statt neoliberalem Zwilling



40

GAPS statt GATS




Grenzen für die Gier



41

Gerechtigkeitsformel 20-10




Ökologische Gerechtigkeit



42

Globales Umweltrecht vor Handels- und Investitionsfreiheit



43

EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung



44

Kostenwahrheit und Ökologisierung des Steuersystems



45

Ökologische Konten



46

Alternativer Wohlstandsindikator




Globale Kooperation



47

Stärkung des UN-Systems




Neue Werte



48

Homo socialis statt Homo oeconomicus



49

Solidarische Ökonomie




Nie wieder »Idiotes«



50

Citoyens braucht die Demokratie







Literaturverzeichnis



Danksagung


Leseprobe


Vorwort






»Wenn die Globalisierung weiter so betrieben wird wie bisher, wird sie Armut und Instabilität fördern und keinen Beitrag zur Entwicklung leisten.«
Joseph Stiglitz






Das Unbehagen wächst. Zwei Drittel der Deutschen erwarten sich heute mehr Nach- als Vorteile von der globalen Konkurrenz. Die Ungleichheiten nehmen nicht nur zwischen den Ländern zu, sondern auch innerhalb der meisten Länder. Größe und Macht der Konzerne wachsen unaufhörlich. Parallel dazu steigt die Ohnmacht vieler Menschen in Süd und Nord. Im einst wohlfahrtsstaatlich orientierten Europa hat der Standortwettbewerb den sozialen Frieden zerstört, Ängste und Unsicherheit in Bezug auf Arbeitsplatz, Rente und Zukunft breiten sich aus.






Von den politischen Eliten wird uns eingeredet, dass dieser Prozess naturgegeben und daher unveränderlich sei: »Die Globalisierung findet statt, ob es uns freut oder nicht«, meint der österreichische Wirtschaftsminister Martin Bartenstein stellvertretend für viele andere. Gegen die Schwerkraft könne man schwerlich ankämpfen, sagen sie. Solche Reden sind perfid, denn obwohl derzeit eine ganz bestimmte Form der Globalisierung forciert wird, im Interesse ganz bestimmter Gruppen, wird sie als einzig mögliche behauptet. »Es gibt keine Alternative«, sagte als Erste Margaret Thatcher, die den Neoliberalismus zum politischen Programm erhob: »There is no alternative«, kurz TINA. Ihr wirtschaftspolitischer Geistesvater, Friedrich August von Hayek, sah im freien Markt eine »natürliche Entwicklung«. Zu einem Naturgesetz gibt es freilich keine Alternative.






Das erste Ziel dieses Buches ist es, mit dem TINA-Märchen gründlich aufzuräumen und eine Fülle von Alternativen vorzustellen. In einer Demokratie gibt es immer Alternativen. Wir müssen uns nur trauen, diese wieder zu denken, und dafür eintreten. Das wertvollste Kapital des Neoliberalismus sind Menschen, die glauben, nichts verändern zu können, und es daher nicht einmal versuchen. Solange all jene, die mit der aktuellen Entwicklung nicht einverstanden sind, wie die Kaninchen auf die Globalisierungsschlange starren, werden ihre Betreiber ein leichtes Spiel haben und die Spielregeln weiterhin zu ihren Gunsten festlegen. Würden sich die Betroffenen hingegen zusammenschließen und die »Wiedereinbettung« der Wirtschaft in ein gesellschaftliches Werte- und Regelsystem einfordern, würde dieses liberale Projekt auch rasch gelingen. Denn auch wenn sich manche den globalen Markt noch so sehr als Regulativ des Zusammenlebens wünschen, formal leben wir immer noch in einer Demokratie. Und in einer aufgeklärten Demokratie ist auch die Wirtschaft ein Teil der Res publica, also Gestaltungsgegenstand und kein metaphysisches Ereignis.






Dieses Buch ist ein Plädoyer, die Gestaltung der Zukunft und des Zusammenlebens aktiv in die Hand zu nehmen. Denn die Politik kann nur so lange gegen die Interessen der Mehrheit handeln, solange die Mehrheiten sich das gefallen lassen. Die Macher der Globalisierung sind schamlos und frech und sie bedienen sich pseudoreligiöser Legitimationsargumente, die ihre Interessen verschleiern. Dennoch: Erfolgreich sind sie nur deshalb, weil der Widerstand bislang zu gering ist.






In den letzten Jahren wurden zwar immer wieder Alternativen vorgeschlagen und zum Teil auch diskutiert, aber sie wurden allesamt abgeschmettert – mit dem notorischen Hinweis, dass sie die »Wettbewerbsfähigkeit« der deutschen/österreichischen/europäischen Unternehmen schwächen oder den »Standort« gefährden würden und deshalb – leider – nicht umgesetzt werden könnten. Der Wettbewerb wurde zum Generalhindernis jedes vernünftigen Gestaltungsvorschlages. Das Regiment des Standorts und der globalen Konkurrenzfähigkeit muss daher ein Ende haben. Niemand hat sie in die Regierung gewählt. Nie wurde darüber abgestimmt, ob sie höherrangig sein sollen als alle anderen Ziele der Wirtschaftspolitik, als alle anderen Werte in einer Demokratie. Mit dem Slogan »Wir wollen den Standortwettbewerb verschärfen« wäre keine Partei jemals an die Regierung gekommen.






Der Prozess der Globalisierung ist vielschichtig und komplex, deshalb sind auch die in diesem Buch vorgestellten Alternativen nicht immer einfach und nicht von jedem von uns sofort umsetzbar, sie beziehen sich mehrheitlich auf die Spielregeln, nach denen die Globalisierung funktioniert. Die/der Einzelne kann wenig tun, wenn die persönlichen Eingriffsmöglichkeiten am System gering sind. Sie/er kann biologische Lebensmittel aus Nahversorgung kaufen und auf Ökostrom umsteigen, aber das ändert noch nichts an der Verschuldung der armen Länder, am Boom der Derivatebörsen und an der Macht der globalen Konzerne.






Hier geht es um weiter reichende Vorhaben: die völlige Neugestaltung der globalen Finanzmärkte, des Welthandels, der Nord-Süd-Beziehungen, des Umgangs mit der Natur und schließlich um die Werte, die der Wirtschaft zugrunde liegen. Die Wirtschaft muss den Menschen und dem Gemeinwohl dienen. Sie muss zurückkehren in den Schoß der Gesellschaft und der Demokratie. Das erfordert nicht kosmetische Korrekturen, sondern eine tief greifende Transformation.






Die leitenden Ziele sind umfassende Demokratisierung, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Achtung und Weiterentwicklung der Menschenrechte, kulturelle und regionale Vielfalt, echte Globalität des Geistes und der Solidarität. Ob dadurch mehr oder weniger Globalisierung entsteht, ist vordergründig egal. Dennoch darf vermutet werden: Es wird ein Weniger an materieller und finanzieller Globalisierung sein – Waren- und Kapitalströme werden abschwellen; und ein Mehr an politischer und kultureller Globalisierung – internationale Kooperation und Menschenmobilität werden zunehmen.






Das Volumen des Handels - und damit der Finanzströme wird allein schon aus einem Grund zurückgehen: Die gegenwärtige Transportintensität der globalen Wirtschaft ist ökologisch keinesfalls nachhaltig und bedroht lokale, überlebensfähige Strukturen. Durch ökologische Kostenwahrheit würde die lokale Wirtschaft gegenüber dem Weltmarkt an Terrain gewinnen, diesen aber nicht vollständig verdrängen: Die Dinge kämen nur wieder ins (ökologische) Lot.






Es geht also nicht um Abschottung oder das Errichten neuer Grenzen aus Prinzip, sondern um ein ökologisch und ökonomisch sinnvolles Zusammenspiel von Lokalität und Globalität unter neuen Vor(rang)zeichen. Um graduelles Öffnen und Schließen, je nach Entwicklungsstand und politischer Zielsetzung.






Die 50 Vorschläge kommen aus allen Teilen der Welt, von KleinbäuerInnen aus dem Süden, von globalisierungskritischen Bewegungen, aus der Wissenschaft, zum Teil von mir selbst. Allen gemeinsam ist der Geist echter Freiheit, radikaler Demokratie und globaler Solidarität.






In fast allen Kapiteln geht den Alternativen eine Analyse der brennenden Themen der Globalisierungsdebatte voraus. Denn das Buch ist auch für all jene gedacht, die zwar schon von Globalisierungskritik gehört haben, sich aber außer einigen Schlagworten noch wenig darunter vorstellen können. Dabei werden auch so grundlegende Dinge aufgearbeitet wie die dem Freihandel zugrunde liegende Theorie der komparativen Kostenvorteile oder das Verhältnis von Eigennutz und Gemeinwohl im Kapitalismus. Die LeserInnen erhalten umfangreiches Argumentationsmaterial für wirtschaftspolitische und Globalisierungsdebatten, sowohl auf der Fakten- als auch auf der Werte-Ebene.






In Anbetracht der Fülle der Vorschläge wäre es sehr überraschend, würden alle auf Zustimmung stoßen. Das ist gar nicht das Ziel. Wichtig ist, dass das Nachdenken über Alternativen angeregt wird. je mehr Menschen über die Lösung globaler Probleme diskutieren, desto wahrscheinlicher wird ihre Umsetzung. Das schönste Verdienst des Buches wäre, dass sich die LeserInnen – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – für eine gerechtere Welt engagieren. Denn die bessere Welt wird nicht von selbst kommen, und schon gar nicht von oben. Sie wird nur dann kommen, wenn sich alle, die sie sich wünschen, auch dafür einsetzen. Die bessere Welt können letztendlich nur wir selbst sein.






Wien, im Juni 2006









Was ist Globalisierung?






»Globalisierung heißt, dass sich die Managergehälter an den USA orientieren sollen und die Löhne an China.«
JÜRGEN PETERS, VORSITZENDER IG METALL






»Globalisierung« ist ein junges Wort mit erstaunlicher Karriere. Wurde es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1993 erst 34-mal gezählt, so kam es 2001 schon auf 1136 Nennungen. Der Begriff an sich ist neutral: Er bezeichnet schlicht, dass etwas global zusammenwächst, sich vernetzt oder verflicht. Das tut die Luft seit jeher, und wenn es Gedanken tun oder Menschen, soll das nur recht sein. Wenn die indische Küche, die arabische Wissenschaft oder die afrikanische Musik sich weltweit ausbreiten, ohne die je weils lokale zu verdrängen, sind das lauter erfreuliche Neuerungen. Wo ist also das Problem?






Es geht natürlich um wirtschaftliche Globalisierung. Dass auch die nicht neu ist, stimmt zunächst. In der Geschichte gibt es seit vielen Jahrhunderten ökonomische Expansionsschübe. Der Kolonialismus war die erste große Welle wirtschaftlicher Globalisierung, vor dem Ersten Weltkrieg war der Anteil des Außenhandels an der Gesamtwirtschaft ähnlich hoch wie heute. Dennoch: Eine ganze Reihe von ökonomischen Entwicklungen ist neu und gibt Anlass für die so genannte Globalisierungskritik.






l Die weltweite Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Deregulierung der Finanzmärkte, die zu einer enormen Beschleunigung der Kapitalbewegungen und zu einer gefährlichen Häufung von Finanz-, Währungs- und Schuldenkrisen geführt haben. Das täglich auf den Devisenmärkten gehandelte Geldvolumen beträgt mit 1,9 Billionen US-Dollar rund das Fünfzigfache des (zugrunde liegenden) Welthandels. Finanzderivate, die zum Teil erst Ende der Neunzigerjahre zu existieren begonnen haben, explodieren derzeit jenseits aller Grenzen des Vorstellbaren.






l Die einseitige Durchsetzung von Freihandel im Interesse transnationaler Konzerne. Der Wettbewerb verlagert sich dadurch zusehends vom Unternehmenswettbewerb zum Standortwettbewerb: Das global mobile Kapital kann die Staaten – lokale Demokratien – gegeneinander ausspielen.






l Konzerne fusionieren zu Oligopolen und Monopolen und lähmen den Wettbewerb. Ihre Größe und Macht wächst unaufhörlich. Sie eignen sich immer mehr an: Erdöl, Saatgut, Trinkwasser, Software, Erbgut.






l Innerhalb von Aktiengesellschaften verschiebt sich die Macht infolge politischer Regulierung zu den Shareholdern, die ohne Rücksicht auf andere Anspruchsgruppen in immer kürzeren Intervallen auf irreal hohe Renditen pochen.






l Die Spielregeln der neoliberalen Globalisierung werden von demokratisch kaum legitimierten Organisationen wie der Welthandelsorganisation, der Weltbank oder dem Währungsfonds gemacht. Keines dieser Gremien wird direkt gewählt.






l Die gegenwärtige Form der Globalisierung ist blind gegenüber den ökologischen Lebensgrundlagen, mehr noch, sie sieht in Umweltschutzgesetzen vorwiegend störende »Regulierungen« und »Handelshindernisse«.






l Das Ökonomieverständnis, das der Globalisierung zugrunde liegt, ist keine »Mischform«. Globalisierung bedeutet die weltweite Ausdehnung eines bestimmten ökonomischen Modells. Von gleichberechtigtem und freiem »Austausch« keine Spur: Globalisierung als nationalistisches Projekt des Westens, als Einbahn.






l Bei Bedarf wird diese ökonomische Einbahn militärisch begleitet, um den freien Ressourcen(rück)fluss zu sichern.






Kurz: Die gegenwärtige Form der Globalisierung raubt zahllosen Menschen politische Freiheitsrechte und ökonomische Existenzrechte. Sie ist Ausdruck eines neuen ökonomischen Extremismus: des Neoliberalismus.






Neoliberaler globaler Fundamentalismus






Neoliberalismus ist eine weitgehende »Reinform« des Kapitalismus. Nicht demokratisch vereinbarte Ziele gestalten die Wirtschaft, sondern die Kapitalvermehrung ist Selbstzweck. Der Mensch wird zum Homo oeconomicus fantasiert, dessen ausschließliches Lebensziel darin liegt, seinen Kapitalbesitz zu maximieren. Die Verfolgung des Eigennutzes führe automatisch zum Gemeinwohl, glauben die Neoliberalen. Damit propagieren sie einen rücksichtslosen Individualismus. Dieses Gesellschaftsverständnis steht in krassem Widerspruch zum politischen Liberalismus: Während dieser gleiche Freiheitsrechte für alle zum Ziel hat, will der Neoliberalismus Freiheit über den Markt verwirklichen, wodurch die ökonomisch Stärkeren ihre »Freiheit« auf Kosten der Schwächeren durchsetzen: Sozialdarwinismus.






Im Zentrum neoliberaler Ideologie steht der Glaube an den Markt als »natürliches« Phänomen, das in der Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft dem Staat überlegen ist. Der Staat solle sich zurückziehen – mittels Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung – und dem freien Wettbewerb und Privatunternehmen das Feld überlassen. Die unsichtbare Hand des Marktes würde auf wundersame Weise zum besten Ergebnis für alle führen: Metaphysik.






Auf globaler Ebene hat diese Ideologie zu Standortkonkurrenz und Freihandel, zum Vorrang von privaten Direktinvestitionen vor öffentlicher Entwicklungszusammenarbeit und zum generellen Rückzug des Staates geführt. Die Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und Währungsfonds in mehr als 100 Entwicklungsländern folgten dem neoliberalen Paradigma: Marktöffnung, Sozialabbau, Privatisierung. Dieses Programm suchte in Form von Maastricht-Kriterien, Sparpaketen und beispielsweise der »Agenda 2010« auch die abnehmend sozialen Marktwirtschaften in Europa heim. Die Staaten werden seit 2000 schlanker, die Kürzungen betreffen fast alle öffentlichen Leistungen, von der Rente über die Bildung bis zur Gesundheitsversorgung und zur kommunalen Infrastruktur.






Obwohl diese Rezeptur bisher nirgends erfolgreich war, soll sie nun via WTO und Co. globalisiert werden. Aus dieser Sicht hat der Neoliberalismus etwas dreifach Totalitäres: Er will ein Einheitsmodell für alle, erhebt den Markt zum Naturgesetz und erlaubt keine Alternativen. Anschaulich zeigt sich dieser Extremismus an den wichtigsten Zielsetzungen der aktuellen Globalisierung:






l freier Kapitalverkehr,
l Freihandel mit Waren und Dienstleistungen,
l Konkurrenz, auch zwischen Staaten,
l Kapitalakkumulation und Wirtschaftswachstum,
l Schutz der globalen Investitionen transnationaler Konzerne,
l globaler Schutz der Patente transnationaler Konzerne.



Bei genauem Hinsehen handelt es sich hierbei nicht um Menschheitsziele, sondern um wirtschaftspolitische Instrumente, die zum Zweck der Veranstaltung geworden sind. Der Grundvorschlag dieses Buches lautet, die Mehrheitsinteressen wieder zum Zweck ökonomischer und zwischenstaatlicher Beziehungen zu machen. Wirtschaftspolitische Instrumente sollen nur dann eingesetzt werden, wenn sie folgenden Zielen dienen:






l Wohlstand und soziale Sicherheit aller Beteiligten,
l Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit,
l Achtung und Weiterentwicklung der Menschenrechte,
l Gleichstellung der Geschlechter,
l ökologische Nachhaltigkeit,
l kulturelle und regionale Vielfalt.






Globalisierung unter diesen Vorzeichen ist freudig zu begrüßen. Derzeit sind die Dinge aber verdreht. Die Instrumente sind zu Zielen geworden, die Ziele leiden zusehends unter den Instrumenten: Das ist die Herrschaft des Marktes, die »Diktatur« oder der »Terror« der Ökonomie, wie er in zahlreichen Werken anschaulich beschrieben wurde. In den nun folgenden Alternativen wird der Markt – bestenfalls – wieder zum Diener. Globalisierung und Wirtschaft dienen der Erreichung der eigentlichen Ziele. Oder sie finden nicht statt.









Grenzen für die Gier
Gerechtigkeitsformel 20-10






(...) Vorschlag: Angesichts des breiten Konsenses, dass die aktuellen Ungleichheiten zu groß sind, legen wir Grenzen für Ungleichheit fest. Wir bestimmen gemeinsam, wie groß die ökonomischen Unterschiede sein dürfen. Zum Beispiel: Die Spitzeneinkommen dürfen nicht mehr als das Zwanzigfache der Mindestlöhne betragen, und niemand soll mehr als zehn Millionen Euro Privatvermögen anhäufen dürfen: 20-l0-Regel. Bitte entspannen, die Welt ginge nicht unter.






Diese 20-10-Regel wäre keine Enteignung der gegenwärtigen Elite, wie es sofort aus hundert Rohren geschossen käme, sondern die Begrenzung ihres Rechts auf Aneignung, das ihnen ohnehin nur von der Gesellschaft zugestanden wird. Enteignung findet derzeit statt, indem die einen so viel besitzen dürfen, dass die anderen zu wenig zum Leben oder Überleben haben: Solange Milliarden Menschen weltweit in Armut darben, AlleinerzieherInnen in Österreich und Deutschland sich den Kopf zerbrechen müssen, wie sie den nächsten Tag schaffen, Obdachlose und MigrantInnen auf der Straße leben oder in schimmligen Wohnungen, ist das eine permanente Enteignung und systematische Beschneidung ihrer Freiheit und Lebenswürde.






Wenn wir entscheiden, dass Privateigentum erlaubt ist (was in der Kulturgeschichte der Menschheit mehr die Ausnahme ist als die Regel), dann sollten wir uns nicht gleichzeitig vor der Frage drücken, wie viel davon legal sein soll: Genauso, wie wir nicht nur entschieden haben, dass Autofahren erlaubt ist, sondern (in Österreich) auch, dass es nur bis zu einer Grenze von 130 km/h erlaubt ist (obwohl technisch sehr viel höhere Geschwindigkeiten möglich sind und dies vermutlich auch von einigen als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden wird). Es ist nicht nur erlaubt, dass jemand für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert, sondern es ist auch geregelt, wie oft; analog dazu sollten wir nicht nur entscheiden, dass Privateigentum zulässig ist, sondern auch wie viel davon. Das kann eine absolute Grenze sein (ökologische Überlegungen) oder eine relative (soziale).






Der Grundmechanismus des Marktes bliebe dabei erhalten. Er würde nur vom bedingungslosen Selbstzweck (oder Naturgesetz) zum Instrument herabgestuft, etwas stärker in den Dienst des Gemeinwohls gestellt. Die Wirtschaft würde voraussichtlich sogar schneller wachsen als in der aktuellen ungerechten Verteilung, weil erstens die Kaufkraft der Schichten mit hoher Konsumneigung stark verbessert würde – die aktuelle Hauptkrankheit der deutschen Wirtschaft – und zweitens der Druck der Finanzmärkte auf Beschäftigtenabbau und Lohnmäßigung schwächer würde, weil das überschüssige Finanzkapital abgetragen und rückverteilt würde. Die lahmende Binnennachfrage käme wieder in Schwung.






Die Befürchtung der Vernichtung des Leistungsanreizes ist übertrieben bis falsch. Zum einen ist es Humbug, dass leistungswillige Menschen nur dann tätig werden, wenn sie das Hundertfache des Mindestlohns kassieren, beim Zwanzigfachen aber faul in der Hängematte bleiben. So simpel sind selbst CE0s [Chief Executive Officer] nicht gestrickt. Die Mehrheit der Manager will ja nur deshalb mehr als das Zwanzigfache der »normalen« Menschen verdienen, weil es die Kollegen der Konkurrenzfirma auch tun. Diese Form des Benchmarkings ist aber wohl der schlechteste Regulationsmechanismus. Er hat dazu geführt, dass die Managergehälter in den letzten Dekaden empfindlich schneller gewachsen sind als ihre Leistung (respektive die Unternehmensgewinne). Es gibt – im Gegenteil – inflationär Beispiele dafür, dass speziell jene, die am stärksten abcashten, gleichzeitig eine miserable Performance hingelegt, zum Teil sogar mit Betrug nachgeholfen hatten. Wenn niemand mehr als das Zwanzigfache verdienen könnte, wären alle Manager aus dem Vergleichswettbewerb (und aus der Verlockung der Bilanzmanipulation) erlöst und könnten sich wieder auf das Werteschaffen (Wirtschaft) konzentrieren.






Davon abgesehen ist die maßlose Überbewertung der Leistung der CE0s bei gleichzeitiger extremer Unterbewertung der Leistung der niedrig qualifizierten Arbeiten nicht nur eine Menschen verachtende Diskriminierung (wieso wird jemand mit geringeren persönlichen Gaben und Talenten dermaßen abgestraft – du bist nur ein 500-stel wert?'), sondern auch systemisch falsch: Ohne die Leistungen der weniger Qualifizierten sind die Leistungen der selbst ernannten »Leistungsträger« nichts wert. Ein Unternehmen und auch die Wirtschaft ist ein System, die Beiträge aller sind unverzichtbar. Auch das spricht für eine Begrenzung der Entlohnungsschere. (Das reale Abhängigkeitsverhältnis würde in diesem System abgebildet: Ein Ansteigen der Spitzenverdienste geht nur, wenn auch die Mindestlöhne steigen.) Gänzlich absurd: Die Leistung der nicht entlohnten Arbeit, wie zum Beispiel Kinderkriegen, die für Gesellschaft und Volkswirtschaft mindestens so unerlässlich ist wie die Arbeit von CE0s, wird durch jede Aufwertung der CE0s weiter abgewertet. Somit heißt der Mechanismus, der die Einkommensschere öffnet, immer auch Sexismus.






Ich glaube weiters nicht, dass bei der 20-10-Regel alle Spitzentalente nach Nordamerika davonlaufen würden. Einerseits ist der Mensch kein Homo oeconomicus, dessen ausschließliches Lebensinteresse darin liegt, einen größtmöglichen Geldberg anzuhäufen, sondern materieller Wohlstand ist – bei reifen Menschen – eines von mehreren, gleich wichtigen Lebenszielen. (Die Verdienstgrenze würde hier in gewisser Weise einer Suchtprävention gleichkommen.) Wenn zweitens dank der 20-10-Regel in Österreich/Europa die Armut gegen null ginge, die Sicherheit ansteigen würde, die Steuereinnahmen sprudeln und die Forschungsmilliarden fließen würden, Vollbeschäftigung herrschen würde (dringend nötige Arbeiten in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Sozialarbeit, Biolandbau, öffentlicher Verkehr, dezentrale Energieversorgung würden finanzierbar), die Entwicklungszusammenarbeit verbessert und dadurch die Zahl der Wirtschafts- und Umweltflüchtlinge spürbar zurückgehen würde, dann hätte diese neue Verteilungsgrundlage auch viele verlockende Vorteile, die unter dem Stichwort »(Zusammen-)Lebensqualität« subsumiert werden können. Nicht zu vergessen, die Intelligenz-Riesen könnten immer noch das Zwanzigfache ihrer immer noch geringer bewerteten MitarbeiterInnen verdienen und zehn Millionen Euro ihr unantastbares Privateigentum nennen, das sind immerhin mehrere Schlösschen.






Ein letztes Gegenargument, das ich schon deutlich hören kann. Der Anreiz für technologische Innovationen würde ausbleiben, wenn nicht unbegrenzte Gewinn-und Einkommensmöglichkeiten lockten. Dass aber Geldmassen der entscheidende Anreiz für Erfinder sein sollen, ist nicht nur eine dumpfe Beleidigung der menschlichen Kreativität und Forschergabe (ja, ein Selbstzweck!), sondern auch durch zahlreiche historische Beispiele (Kinderlähmungsimpfung, Linux) widerlegt: Immer wieder stellen Menschen ihre Erfindungen unentgeltlich der Allgemeinheit zur Verfügung, technologischen Fortschritt gab es lange vor der kapitalistischen Ära. Auch Bill Gates hätte wohl kaum, statt fiebrig in der Garage zu tüfteln, sich fad vor den Fernseher gehockt, wenn er durch die betrübliche Aussicht demotiviert worden wäre, dereinst nur zehn Millionen Euro zu besitzen oder das Zwanzigfache des Mindestlohnes verdienen zu können.






Ein wichtiges Argument für die Begrenzung der ökonomischen Macht von Individuen ist die Demokratie. Wenn niemand so reich und mächtig sein kann, dass er PR-Kampagnen im Alleingang finanzieren oder PolitikerInnen mit extremen Summen bestechen oder die Durchsetzung seiner privaten Interessen einer ganzen Volkswirtschaft schaden kann, wird die Politik automatisch unbestechlicher und weniger korrupt. Wenn hingegen Einzelpersonen halb so viel besitzen wie der Staat oder Einzelunternehmen ungefähr so viel umsetzen wie der Finanzminister, dann wird es heikel für die Demokratie.






Die soziale, ökologische, gerechte Gestaltung der Wirtschaft wird von vielen heiß ersehnt, aber aufgrund der gegenwärtigen Interessens- und Machtverhältnisse als Utopie betrachtet. Sämtliche Vorschläge dieses Buches ließen sich sehr viel leichter umsetzen, wenn kein Einzelner und keine organisierten Superreichen entscheidende politische Macht besäßen. Es zählt somit zu den Grundvoraussetzungen einer funktionierenden Demokratie, dass niemand in einem Gemeinwesen zu mächtig wird. Die moderne Gewaltentrennung führt sich ad absurdum, wenn Verfassung und Gesetze es erlauben, dass einzelne Menschen allein aufgrund ihrer materiellen Macht tausendmal mächtiger sind als andere. 20-10 wäre somit auch ein Meilenstein in der Weiterentwicklung der Demokratie. Die Ära der Berlusconis, Bushs und Bartensteins (Familienvermögen 104 Millionen Euro) wäre vorbei.






20-10 würde schließlich Menschen dazu zwingen, nicht alle Bedürfnisse über Geld zu befriedigen – sie müssten ab der vereinbarten Grenze mit sozialer Kompetenz und emotionaler Intelligenz oder anderen Vorzügen punkten. Das wäre insofern nicht schlecht, als es sich hierbei um die Achillesfersen des Abendlandes handelt. Ein kleines Gegengewicht zum extremen Materialismus täte gut. In keiner Weltreligion oder großen Philosophie ist die maximale Anhäufung von materiellen Gütern ein zentraler Wert, im Gegenteil. Alle zeitlosen Geistesschulen legen Wert auf ein Leben, das mäßig an materiellen und reich an immateriellen Werten ist: Gefühle, Beziehungen, Werte, Gemeinschaft, Spiritualität, Natur. Selbst die Spitzenmanager pilgern zahlreich in Seminare, wo sie einen kleinen Ersatz (und Trost) finden für nicht gelebte Beziehungen, Gemeinschaft, Rituale und Sinn. Psychologisch ist eindeutig erwiesen, dass Multimilliardäre nicht glücklicher leben als Multimillionäre. Ist es nicht erstaunlich, dass wir trotz dieser Einstimmigkeit im ethisch-philosophischen Überbau die Spielregeln für den Lebensalltag in den westlichen Zivilisationen vollkommen konträr gestalten? Wäre es nicht höchst an der Zeit, den Unterbau – das Wirtschaftssystem – wieder schrittweise an den Überbau anzunähern? Die 20-10-Regel ist auf diesein langen Weg ein kleiner, aber strategisch wertvoller Schritt. 20-10 ist ein paradoxer Schritt sowohl aus der materiellen als auch aus der immateriellen Armut.


Siehe auch:


Christian Felber: Neue Werte für die WirtschaftEine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus



Christian Felber: Kooperation statt Konkurrenz – 10 Schritte aus der Krise



Christian Felber: Gemeinwohl-Ökonomie – Eine demokratische Alternative wächst (Erweiterte Neuausgabe)



Christian Felber: Retten wir den Euro!



Christian Felber: GeldDie neuen Spielregeln