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Philipp Lepenies
Verbot und Verzicht
Politik aus dem Geiste des Unterlassens


Berlin 2022 (edition suhrkamp); 266 Seiten; ISBN 978-3-518-12787-2






Ein Reflex lähmt die politischen Debatten um den Klimawandel. Sobald es um Maßnahmen geht, die Einschränkungen bedeuten, ist die Empörung groß: Tempolimit? Der sichere Weg in die Ökodiktatur! Veggie-Day? Das war’s mit dem Nackensteak! Dabei waren Verbot und Verzicht lange bewährte Instrumente, um Ressourcen zu schonen oder ökologische Krisen zu bewältigen. Man denke nur an das FCKW-Verbot.

Philipp Lepenies untersucht die Ursprünge dieser eingeübten Fundamentalopposition. Er führt sie auf die neoliberale Haltung zurück, die im Staat einen Gegner sieht und individuelle Konsumentscheidungen über moralische und ökologische Bedenken stellt. Dieser Geist falsch verstandener Freiheit hat allerdings eine Politik des Unterlassens hervorgebracht, die sich scheut, das Offensichtliche auszusprechen: dass eine sozialökologische Transformation ohne Verbot und Verzicht nicht gelingen wird.

Der Glaube, Verbot und Verzicht seien keine legitimen staatlichen Instrumente, zeigt, wie stark sich die Ideale des Neoliberalismus in den Köpfen festgesetzt hat.


(Klappentexte)


Philipp Lepenies


geboren 1971, ist Ökonom und Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.


Inhaltsverzeichnis


Die Unausweichlichkeit von Verbot und Verzicht – eine Vorbemerkung

Einleitung: Nachhaltige Entwicklung und Verbotspolitik

I Die Argumente des Unterlassens
Pervertierung
Nutzlosigkeit
Gefährdung
Illegitimität

II Verzicht – Geldmachen und Affektkontrolle
Entgegenwirkende Leidenschaften
Interesse
Wirtschaftliche Tätigkeit
Doux Commerce und die zivilisatorischen Effekte des Geldmachens
Konsumverzicht und der Geist des Kapitalismus
Eigeninteresse und Allgemeinwohl

III Verbot – Der Staat als Gegner
Staat versus individuelle Freiheit: Hayek und der Weg in die Knechtschaft
Die Rolle des Individuums
Unerwarteter Erfolg
Das Individuum als Held, der Staat als Teufel: Ayn Rand
Der Kampf um Ideen: Unternehmer, Think-Tanks und die Mont Pèlerin Society
Die 24 Eier des Antony Fisher
Chicago und die Verfassung der Freiheit
Die Rhetorik der Freiheit: Das neorömische Erbe Englands
Atlas
Hayeks Ideen erstrahlen
Milton Friedman
Das amerikanische Road to Serfdom: Capitalism and Freedom
Wettbewerb im Bildungssektor
Die Friedman-Doktrin: Die Rolle von Unternehmern
Stockholm ruft
Fernsehen und Free to Choose
Umwelt
Der Staat als Problem
Sozialismus, überall Sozialismus

IV Konsum I – Konsumentensouveränität und Douce Consommation
Wenige konsumieren, alle werden glücklich
Liebe und Geltungskonsum
Konsum und die Vorzüge der Ungleichheit
Von der Rückständigkeit des Geldausgebens
Verbraucherdemokratie
Konsumentensouveränität
Douce Consommation: Der milde, süße Konsum

V Konsum II – Konsumtristesse und ungebremste Affekte
Massenkonsum als Realität und Ideal
Konsumkultur
Konsumkritik der Postmoderne
Wiederkehr des Affekts
Digitalisierung und Affekte: Der Konsument wird zum Tyrannen

Schluss: Politik aus dem Geiste des Unterlassens


Leseprobe


Seite 1-19 siehe: https://www.suhrkamp.de/buch/philipp-lepenies-verbot-und-verzicht-t-9783518127872


Zitate


Fußnoten und Quellenangaben sind hier nicht wiedergegeben. Farbliche Hervorhebungen durch E.W.






Die Unausweichlichkeit von Verbot und Verzicht – eine Vorbemerkung

Um den Klimawandel aufzuhalten oder zumindest abzuschwächen, müssen wir unsere Art zu leben grundlegend verändern. Wir stehen vor einer umfassenden Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit. Diese wird staatlich gelenkt werden.Verbot und Verzicht werden eine wesentliche Rolle spielen. Nicht die alleinige, aber eine zentrale. In den letzten Jahren hat sich allerdings eine politische Haltung herausgebildet, die Verbote und Verzicht als staatliche Steuerungsinstrumente immer stärker und immer lauter ablehnt. Gleichzeitig wird das Anrecht auf jedwede individuelle Konsumentscheidung als unveräußerliches Freiheitsrecht zunehmend emotionaler, angespannter und aufgeregter verteidigt. Dieses Buch beschreibt, wie es dazu kommen konnte, dass zum einen dem demokratisch legitimierten Staat die Fähigkeit und das Recht abgesprochen wird, das Verhalten seiner Bürger zu regeln, und zum anderen unbegrenzter individueller Konsum als freiheitliche Norm idealisiert wird.
   Das Interesse an dieser Frage ist nicht nur historisch. Ich werde zeigen, dass die hier behandelten Glaubensgrundsätze aus einer Haltung resultieren, die Demokratie und demokratische Prozesse kritisch beurteilt. Stattdessen stehen für sie die ökonomische Logik des Wettbewerbsmarktes und die individuelle Nutzenmaximierung als soziale Ordnungsprinzipien an erster Stelle. Die Digitalisierung hat diese Tendenz in den letzten Jahren drastisch verstärkt. Die Folge ist eine starre, mehr und mehr hysterische und in ihren Konsequenzen fatale Abwehrreaktion gegenüber Transformation und persönlichen Einschränkungen. Sie gefährdet die Überlebensfähigkeit unserer Demokratie. Schließlich zerstört diese Haltung immer augenscheinlicher die Elemente, auf denen zivilisatorischer und demokratischer Fortschritt beruht: Affektkontrolle und Gemeinwohlorientierung.






Seite 19/20
Der Grundgedanke des Neoliberalismus lautet, dass das Allgemeinwohl maximal gefördert wird, wenn sich möglichst alle sozialen Transaktionen an der Marktlogik des Wettbewerbs ausrichten. Der Staat soll nur die Rahmenbedingungen für das Funktionieren von Märkten setzen und sich ansonsten am besten aus allem heraushalten. Der Markt wird idealisiert, der Staat verteufelt. Der Markt ist effizient, der Staat ist es nicht. Der Markt schafft Freiheit, der Staat nimmt sie. Der Markt ist der Tummelplatz des wichtigsten Akteurs der neoliberalen Welt: des autonomen Individuums, das tagtäglich bemüht ist, auf der Suche nach dem Glück seinen Eigennutz zu maximieren. Der Neoliberalismus zielt auf »die Entzauberung der Politik durch die Wirtschaft«. Elementaren demokratischen politischen Prozessen skeptisch gegenüber eingestellt, sollen Marktnormen zu politischen Normen werden. Staatliche Aktivitäten sollten nicht nur zurückgefahren werden, sondern der Staat selbst und die ganze Logik des Regierens sollen sich dem Markt anpassen.






Seite 22-25
Für das Thema Verbot und Verzicht ist der Stellenwert des individuellen Konsums entscheidend. Zum einen weil in den aktuellen Transformationsdebatten ein Verbot immer den individuellen Konsum beschneiden würde; zum anderen weil Konsum und das Recht, ungehindert zu konsumieren, das genaue Gegenteil von Verzicht sind. Im vierten Teil wird daher die Genese des Begriffs der Konsumentensouveränität neoliberaler Autoren wie William Hutt und Ludwig von Mises nachgezeichnet. Mit diesem Konzept wurde nicht nur das Recht auf unbegrenzten und unreglementierten individuellen Konsum abgeleitet. In dieser Vorstellung löste auch der Konsument den politischen Bürger als Souverän ab. Um das Gemeinwesen effizient zu gestalten, war daher unbegrenzter individueller Konsum maximal geboten. Konsum wurde zur ersten Bürgerpflicht. Freiheit wurde zur ungestörten Konsumentscheidung und die Demokratie zu einer democracy of the consurner. Der Neoliberalismus fußt auf der Vorstellung dessen, was ich douce consommation nenne – des allseits Nutzen spendenden Effekts des individuellen Konsums. Freie Märkte und damit Freiheit existieren nur, wenn konsumiert wird und der Einzelne nach Herzenslust konsumieren darf.
   Die Folgen der Fixierung auf individuellen Konsum sowie dessen Steigerung durch die Digitalisierung sind Gegenstand des fünften Teils. Konsum und veränderte Konsumgewohnheiten führten spätestens ab den siebziger Jahren zu einem spürbaren gesellschaftlichen Wandel, der sich darin ausdrückt, dass der Konsum zum dominanten identitätsstiftenden Merkmal der Individuen postmoderner Gesellschaften geworden ist. Der Aufstieg der Mobiltelefonie sowie des Internets hat die Einengung individueller Entfaltungsmöglichkeiten auf den Konsum nicht nur bedeutend vorangetrieben, sondern hat in der Konsequenz zur Rückkehr und Verstärkung emotionaler, echauffierter und affektierter Verhaltensweisen geführt, die sich besonders dann entladen, wenn die individuelle Konsumhandlung eingeschränkt werden soll. Mit der Digitalisierung verstärkt sich eine individualzentrierte Anspruchshaltung des „Ich darf alles“, die den neoliberal verklärten individuellen Konsumsouverän in das Gegenteil von dem verwandelt, was er eigentlich sein sollte: in einen individuellen Tyrannen, der jeden Eingriff in seine Konsumentscheidungen vehement ablehnt. Die douce consommation ist daher alles andere als douce und verkehrt sich in ihr Gegenteil.
   Die extreme Haltung, die Verbot und Verzicht als Instrumente staatlichen Handelns ablehnt, fußt auf drei miteinander verzahnten Aspekten: erstens auf der Ablehnung staatlicher Eingriffe in das Privatleben, gespiegelt im Bild des Staates als Gegner, dessen Aktivitäten im Gegensatz zu denen des idealisierten autonomen Individuums grundsätzlich negativ zu bewerten sind. Zweitens auf der Überhöhung des Konsums und der Idee der Konsumentensouveränität als Recht und Motor einer effizienten Marktwirtschaft. Drittens auf einer digital unterstützten und sich verstärkenden individualzentrierten Konsumblase, die nicht nur die affektive und emotionale Ebene besonders anspricht, sondern zu affektgeladenen und emotionalen Reaktionen herausfordert, wenn die eigenen als legitim angesehenen Konsummöglichkeiten behindert werden. Diese drei Aspekte bestimmen die Gliederung dieses Buches.
   Da es sich bei den Abwehrargumenten gegen Verbot und Verzicht zunächst immer um rhetorische Floskeln handelt („Ökodiktatur“, „Bevormundung“), beginnt dieser Text im folgenden ersten Teil mit einer allgemeinen Darstellung rhetorischer Strategien gegen Wandel und Transformation. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die Behauptung, staatliche Verbote und Verzichtsideen seien grundsätzlich illegitim.
   Im zweiten Teil lege ich in einem kurzen ideengeschichtlichen Exkurs dar, dass schon vor Jahrhunderten die Verfolgung individueller wirtschaftlicher Eigeninteressen nicht nur akzeptiert, sondern als gewünschte Verhaltensnorm etabliert war. Im Unterschied zur modernen neoliberalen Konsumfixierung war diese ältere Vorstellung des doux commerce allerdings geprägt von Affektkontrolle und Konsumverzicht. Doux commerce, so hieß es damals, habe nicht nur einen positiven Effekt auf den Umgang der Menschen miteinander, sondern sei eine der Haupttriebfedern der Zivilisation. Außerdem sei er eingebettet in eine Ethik der Allgemeinwohlorientierung. Es sind genau diese Parameter, die durch die Individualzentrierung und Konsumfixierung des Neoliberalismus im Sinne der douce consommation verloren gegangen sind und deren Fehlen sich in den Debatten um Verbot und Verzicht so deutlich zeigt.
   In den Schlussfolgerungen zeige ich, warum die extremen Reaktionen auf Verbot und Verzicht eine Gefahr für die Demokratie darstellen und auf einem fatalen Politikverständnis beruhen, das notwendige Transformationsschritte hin zu mehr Nachhaltigkeit bremst, wenn nicht gar verhindert: eine Politik aus dem Geiste des Unterlassens.






Seite 29/30
In seiner 1991 erschienenen Studie The Rhetoric of Reaction (dt.: Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion) hat Albert O. Hirschman die Argumentationsmuster der Reaktion über einen Zeitraum von zweihundert Jahren untersucht. Dabei nutzte er drei große historische Transformationsmomente als realpolitische Ausgangspunkte, um zu zeigen, dass sich die Abwehrhaltung konservativer Kreise traditionell in drei rhetorischen Mustern äußerte. Die von ihm gewählten Beispiele waren die Französische Revolution (18.Jahrhundert), die Einführung des allgemeinen Wahlrechts (für Männer, im 19. Jahrhundert) sowie die Etablierung des Wohlfahrtsstaates beziehungsweise die Einführung staatlicher Unterstützungsmaßnahmen für Arme, Arbeitslose, Kranke etc. (im 20.Jahrhundert).






Seite 30-32
Pervertierung – Das erste rhetorische Muster bezeichnet Hirschman als Perversity Thesis. Dieser zufolge ist jedwede revolutionäre politische oder soziale Transformation zum Scheitern verurteilt. Der Grund hierfür seien die nichtintendierten Effekte sozialen Verhaltens (…) Im Falle wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen wie der finanziellen Unterstützung von Arbeitslosen und Armen lautet ein traditionelles Perversity-Argument, dass die monetäre Hilfe Arbeitslosigkeit und Armut nicht verringere, da diese Menschen durch die Unterstützung den fatalen Anreiz erhielten, sich nicht um eine Verbesserung ihrer Lage zu bemühen. Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen würden zu Faulheit einladen. (…) Die Perverstiy Thesis beruht auf der Annahme, dass der Mensch natürlichen und unveränderlichen Verhaltensmustern folgt. Dementsprechend besteht der Sinn von Politik und Institutionen darin, diese Muster zu erkennen, zu akzeptieren und sie zu nutzen – und nicht darin, sie verändern oder neu formen zu wollen. Davon ausgehend kann man Reformpolitikern dann vorhalten, und das ist die vermeintliche Stärke des Perversity-Arguments, sie würden die Natur des Menschen nicht verstehen.






Seite 32/33
Nutzlosigkeit – Das zweite rhetorische Muster ist die sogenannte Futility Thesis. Diese behauptet schlicht, dass geplante transformative Maßnahmen ihr Ziel nicht erreichen werden: Sie sind nutzlos. Bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts (für alle Männer) in mehreren europäischen Staaten ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam das Argument auf, dass diese Ausweitung und regelmäßige Wahlen an der etablierten Sozial- und Machtstruktur nichts ändern würden. Wahlen seien Makulatur. (…) Die Eliten eines Landes (…) würden immer die Oberhand gewinnen. (…) In den aktuellen Diskussionen (…) wird die Futility Thesis häufig im Zusammenhang mit der Vorstellung gebraucht, Verbote und die mit ihnen einhergehende Neuausrichtung des Verhaltens einiger Menschen würden insgesamt nicht ins Gewicht fallen; oder die betroffenen Sektoren hätten so wenig Anteil an dem zu lösenden Gesamtproblem, dass jedes geplante Verbot unnütz sei.






Seite 34/35
Gefährdung – Der dritte rhetorische Kniff ist die Jeopardy Thesis. Die ins Auge gefassten transformativen Maßnahmen hätten nicht nur nichtintendierte Nebeneffekte oder würden nicht funktionieren: Sie wirkten sich darüber hinaus zerstörerisch auf die bestehenden Institutionen und die bestehende Ordnung aus und gefährdeten sie. Der Grund hierfür sei, dass die zu erwartenden Kosten den Nutzen weit übersteigen würden. (…) Im Falle der in Deutschland aktuell diskutierten möglichen transformativen Maßnahmen wird häufig angeführt, dass bestimmte neue Standards (wie Abgasnormen) die vermeintlich systemrelevante deutsche Autoindustrie und ihre Zulieferer so hart träfen, dass ein Großteil der produzierenden Industrie den Todesstoß erhalten würde und Millionen von Menschen in die Arbeitslosigkeit abgleiten würden. Die Sicherung des „Industriestandorts Deutschland“ oder des „Wohlstandes“ sind typische Floskeln der Jeopardy Thesis.






Seite 36
Illegitimität – Neben den drei von Albert Hirschman herausgearbeiteten Reaktionsmustern hat sich im Zuge der aktuellen Transformationsdebatte in Deutschland noch ein zusätzliches, entscheidende viertes Argument etabliert. Ich nenne es in sprachlicher Anlehnung an die drei Thesen von Hirschman die Illegitimacy Thesis: die These der Unrechtmäßigkeit. Besonders deutlich zeigt sie sich in Auseinandersetzungen um Vorschläge, bei denen Verbot und Verzicht eine Rolle spielen. Der Aufschrei gegen eine angebliche „Verbotspolitik“ sowie die Verwendung der Wörter „Verbot“ und „Verzicht“ als Kampfbegriffe sollen anzeigen, dass man Verbote sowie die Aufforderung zum Verzicht nicht als sinnvolle, vor allem aber als nicht legitime politische Maßnahmen ansieht. Man echauffiert sich, dass Verbot und Verzicht staatlicherseits verordnet werden. Es geht in den Debatten weit seltener inhaltlich und detailliert um den Sinn oder Unsinn geplanter Verhaltensänderungen. Es geht um Verbot und Verzicht an sich. Diese werden grundsätzlich abgelehnt. Anders al bei den von Hirschman herausgearbeiteten Reaktionsmustern sind es nicht die Konsequenzen bestimmter Politiken, die angegriffen werden, sondern die Art und Weise, wie und mit welchen Instrumenten Politik gemacht wird.






Seite 74
Die Kernidee der Illegitimacy Thesis lautet, dass Verbote und Verzichtsaufforderungen keine legitimen und adäquaten Steuerungsinstrumente des Staates sind, um das Verhalten der Bürger zu beeinflussen. Das bedeutet nicht, dass es keinen Raum für staatliche Verbote und Gebote geben dürfe – etwa im Strafrecht oder bei notwendigen Regulierungen, zum Beispiel im Straßenverkehr. Aber hinter der These steckt die Vorstellung, der Staat solle sich so weit wie möglich aus dem Privatleben der Bürger heraushalten. Verbunden damit ist ein Bild vom Staat, in dem dieser für die Bürger mehr oder weniger gefährlich ist. Sein Aktionsradius muss daher auf ein absolutes Minimum beschränkt werden. Der Staat ist ein Gegner, den es immer wieder zu bekämpfen gilt. Freiheit ist der Kampfbegriff, der den Zustand beschreibt, in dem der Einzelne tun kann, was er will. Dieser Zustand soll verteidigt werden. Die Gegenbegriffe lauten Knechtschaft und Sozialismus. Das Individuum ist die wichtigste Bezugsgröße. Es geht nicht um die Gesellschaft oder die Gesamtheit der privaten Akteure. Es geht immer nur um das Individuum, das seinen Präferenzen gemäß am Markt entscheiden können muss. Der Neoliberalismus ist die Ideologie, die diese Sicht auf den Staat und das Individuum am deutlichsten und auch am effektivsten vertreten hat.






Seite 257/258
Das System des Wettbewerbsmarktes als soziales Ordnungsprinzip lebt von der Illusion der Konsumentensouveränität. Damit kommt nicht nur dem Konsum, sondern dem einzelnen Konsumenten eine herausgehobene Bedeutung zu. Konsum ist nicht nur systemstabilisierend, er ist auch eine Norm. Wir ihr nicht Folge geleistet, können Märkte nicht funktionieren, fehlt das Korrektiv, das Produzenten effektiv arbeiten lässt und den Wettbewerbsmechanismus antreibt. Ohne Konsum kann der Einzelne seine Präferenzen nicht realisieren. Effiziente Märkte und Freiheit entstehen durch die magische und für die Individuen extrem befriedigende douce consommation. Entgegen den Vorstellungen vom doux commerce ist damit jedoch keine Affektkontrolle mehr verbunden. Im Gegenteil: Die von Neoliberalen verlangte Extremtoleranz gegenüber jedweder Konsumentscheidung als höchstem Ausweis von Souveränität und Autonomie macht den Konsum bewusst zu einer Affektentscheidung. Dahinter verbirgt sich die Überzeugung, dass der Markt allein das Verhalten der Menschen in vernünftige Bahnen lenken kann und lenken wird. Für Neoliberale ist eine Affektkontrolle unnötig, da diese genau wie jede andere zivilisatorische Leistung vom Markt beziehungsweise der Anpassung der Individuen an die jeweiligen Marktgegebenheiten gewährleistet wird. Gleichzeitig spielt auch Moral keine Rolle. Zumindest betont der Neoliberalismus, dass niemandem bestimmte Konsumentscheidungen aus moralischen Gründen verwehrt werden sollten. Statt dessen setzt man auf einen aufgeklärten, rationalen individuellen Entscheider, der vernünftige Entscheidungen trifft.






Seite 259
Die Politik soll unterlassen, was der Einzelne nicht möchte. Von allen Seiten wird das Individuum schon lange darin bestärkt, genau so zu denken: Ich darf alles, und keiner darf mir etwas verbieten. Die Überhöhung der individuellen Konsumentscheidung im Sinne der Konsumentensouveränität wirkt noch auf einer anderen Ebene fatal verstärkend. Die Betonung, dass die individuelle Konsumentscheidung demokratischer sei als die politische Stimmabgabe, dass ein Wert darin zu sehen sei, Mehrheitsentscheidungen nicht akzeptieren zu müssen, die den eigenen Präferenzen widersprechen, zeugt nicht nur von einem eigentümlichen Verkennen demokratischer Werte, sondern unterminiert und delegitimiert die Demokratie. Diese baut auf einem Verständnis der Gemeinschaft und des Gemeinwohls auf. Sie funktioniert nur, wenn man lernt, Kompromisse einzugehen und Mehrheitsmeinungen zu akzeptieren. Diese Grundhaltung wird von den Neoliberalen und durch die konsumptive Ich-Zentrierung zerstört. Die gefühlte und zelebrierte freedom from obligation der douce consommation ist wahrscheinlich die größte Gefahr, die vom Neoliberalismus ausgeht. Sie befreit den Einzelnen davon, andere und anderes in den Blick zu nehmen und nicht nur das eigene Konsum-, sondern auch das eigene Affektverhalten zu überdenken. Die freedom from obligation bedeutet, niemandem gegenüber verantwortlich zu sein. Sie verhindert, all das ins Blickfeld zu rücken, was für eine gesellschaftlich Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit notwendig wäre.






Seite 265
Die Klimakatastrophe braucht eine Politik der Aktion und eine Politik der Verhaltenssteuerung. Die möglichen Alternativen dazu müssen Gegenstand demokratischer Sachdebatten sein. Politik darf neben Verhaltensregulierung durch Verbot und Verzicht auch nicht davor zurückschrecken, Sachdiskussionen mit Moral zu verbinden. Die fundamentale Herausforderung für eine nachhaltige Entwicklung, nämlich die Lebensgrundlagen für die uns nachfolgenden Generationen nicht zu zerstören, ist zutiefst moralischer Natur. (…) Es bedarf eines neuen Grundkonsenses hinsichtlich unseres Bildes vom Staat. Eines, das im Staat nicht einen Gegner sieht, sondern in dem wir uns (…) selbst erkennen – uns, die durch ein Verantwortungsgefühl für andere und die Umwelt motiviert werden. Dazu gehört auch die Maßgabe, unsere Affekte und unseren Extremindividualismus zu kontrollieren. Zur Not durch Verbot und Verzicht. Sicher nicht länger durch Unterlassen.