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Florian Müller / Michael Müller (Hg.)
Markt und Sinn

Dominiert der Markt unsere Werte?

Frankfurt/Main 1996 (Campus Verlag); 254 Seiten; ISBN 3-593-53316-7








Nicht erst seit dem „Sieg“ des westlichen Wirtschaftssystems ist der Markt zur Legitimationsinstanz für gesellschaftliche Werte geworden. Zunehmend werden Kategorien des Marktes auch auf Bereiche angewendet, die traditionell selbständige Wertkategorien hatten: Die eigene Person wird danach modelliert, wie sie sich „verkaufen“ läßt, im Kunst- und Kulturbetrieb bekommen marktspezifische Erfolgskriterien einen immer größeren Stellenwert, in der Kommunikation wird das „Wachstum“ der Kommunikationsakte und der Infrastruktur höher bewertet als inhaltliche Qualität.




Dieses Buch geht diesen Tendenzen aus künstlerischen und wirtschaftlichen, sozialen und wissenschaftlichen Blickwinkeln nach. Es will zu einer Diskussion anregen, der sich unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren verstärkt stellen muß. Es entstand aus einem Symposium, das vom 3. bis 6. August 1995 in Ludwigsburg im Rahmen der Ludwigsburger Schloßfestspiele – Internationale Festspiele Baden-Würtemberg stattfand.


Inhaltsverzeichnis


Florian Müller / Michael Müller



Macht Markt Sinn?






1. MARKT – REALITÄT UND UTOPIE



Elmar Altvater



Die Welt als Markt?



— Disembedding: Die Herauslösung des Marktes aus der Gesellschaft



— Vom Markt zum Weltmarkt



— Das Geld des Weltmarktes: Auf dem Weg in den „Derivatenkapitalismus“



— Die Welt ist hichverschuldet



— „Sozialismus“ im real existierenden Kapitalismus?



Kurt Sontheimer



Gibt es Alternativen zur Marktwirtschaft?



Michael Hutter



Evolution oder Steuerung? Zu einer Diskussion innerhalb der Wirtschaftstheorie



— Traditionelle Entwicklungserklärungen



— Das Paradigma der Evolution



— Die Evolution von Sinnspielen



— Was bleibt von der Idee der Steuerung?



Bernhard Freiherr von Loeffelholz



Wert oder Tauschwert – kann der Markt alles leisten?



Peter Kafka



Geld oder Leben? Zur Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus



— Vom Markt der Möglichkeiten



— Die globale Beschleunigungskrise



— Wirtschaft – Was ist das eigentlich?



— Zur Organisation der Grenzen des Wachstums






2. SYSTEM UND INDIVIDUUM – MARKT ALS DETERMINANTE



Sighard Neckel



Identität als Ware. Die Marktwirtschaft im Sozialen



Klaus Farin



Von der Erfindung des Teenagers und anderen Märkten



— Beispiele: Punk, HipHop, Techno



Konrad Schily



Der Preis der Freiheit



Wolfgang Schmidbauer



Sinnstiftung durch Psychotherapie oder die Zukunft einer Re-Illusionierung






3. KUNST – SINN IM MARKT



Niklas Luhmann



Sinn der Kunst und Sinn des Marktes – zwei autonome Systeme



Peter Iden



Täuschung als Mittel der Erkenntnis



Ulrich Krempel



Kunst und Kunst – Kunst und Markt



Peter L. H. Schwenkow



Darf der Kunde König sein? Kunst und Publikumserfolg



Wolfgang Gönnenwein



Kultur – kurzfristig verzichtbares Konsumgut oder andauernde Investitionspflicht?






Die Autoren


Leseprobe


Florian Müller / Michael Müller



Macht Markt Sinn?






Was wir gemeinhin Gesellschaft oder Kultur nennen, wird durch einen Prozeß konstituiert, den die physikalischen, biologischen, psychischen und sozialen Systeme in ihrer dynamischen Verbundenheit über alle Ebenen hinweg gestalten. Innerhalb der sozialen Systeme ist der Markt oder die Marktwirtschaft ein gesellschaftlich-kulturelles Bezugssystern unter vielen anderen – dem der Kunst beispielsweise, der Wissenschaft, oder der Medien. Solche Bezugssysteme konstellieren ihren Prozeß in psycho-sozialer Hinsicht gerade auch durch eine Hierarchie von Wertsetzungen, die das Fühlen, Denken und Handeln in diesen Systemen strukturieren. Solche Wertsetzungen können sich aus Kriterienkatalogen speisen, die mehr oder weniger scharf eingrenzen, welche Kunstwerke man etwa für »hohe« oder »populäre« Kunst zu halten hat, welche Äußerungen als »streng wissenschaftliche« durchgehen und welche nur als »essayistische«, oder welche Meldungen es verdienen, auf die Titelseite zu kommen und welche anderen sich mit einem Platz unter »Vermischtes« begnügen müssen. Diese Kriterien sind in vielen Fällen unausgesprochene, und eines der wohl im wesentlichen ungewußten Ziele solcher Setzungen ist es, die Kohärenz des relevanten Bezugssystems aufrechtzuerhalten. Diese Systemkohärenz diktiert auch, wie man sich als Künstler, Wissenschaftler oder Journalist zu verhalten hat, ja was man letztlich denken und fühlen darf, um nicht die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Diese Verhaltensregeln werden vor allem bei Grenzverletzungen sichtbar und bringen sowohl unbewußtes soziales Material hervor wie sie gleichzeitig neue Werte konstruieren und alte befestigen. Anschauliche Beispiele liefern seit dem Beginn der 90er Jahre zunehmend die sogenannten Medien-Skandale: Da die TV-Journalistin Ilona Christen schon seit längerer Zeit Werbung für Waschpulver machte, dachte vielleicht ihr Kollege Ulrich Wickert an nichts Schlimmes, als er in dem Werbevideo einer Versicherung auftrat. Wickert hatte nur eines nicht bedacht: Er hatte kurz davor zwei dicke Wälzer über Moral und Tugend veröffentlicht. Auf diesem Hintergrund nahm man ihm seinen Werbeauftritt übel, zahllose Wächter der Wertesysteme brandmarkten Wickert. Offenbar war zur Aufrechterhaltung der Systemkohärenz eine neue bzw. neu thematisierte Grenzdefinition unumgänglich. Seit diesem Skandal kennt jedermann die bis dahin stillschweigende Regel: Tugend und Werbung schließen sich aus.






Im Verhältnis der gesellschaftlichen Subsysteme und ihrer Wertsetzungshierarchien zueinander und zum Gesamtsystem gibt es zwei idealtypische Zustände, die relative Stabilität versprechen. Der eine ist der Zustand der möglichst vollständigen Trennung der Wertsetzungssysteme voneinander: Eine Person kann entweder im einen oder im anderen agieren, aber nicht in beiden. Sie kann entweder Künstler sein oder Wissenschaftler, entweder Werbeschaffender oder Journalist, aber nicht beides zugleich. Die Affäre um Wickert ist auch ein Reflex aus einer solchen Ordnung der Trennungen. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde diese Ordnung am Beispiel des Verhältnisses von Staat und Kirche diskutiert. »Mögen die Mönche aussterben, sobald ein Geschlecht ersteht, welches die beiden höchsten Kräfte der Menschenseele, die sich auszuschließen scheinen, die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit vereinigen lernt. Bis zu jener späten Weltstunde verwalte der Staat die eine, die Kirche die andere«, sagt Dante in Conrad Ferdinand Meyers 1884 erschiener Novelle »Die Hochzeit des Mönchs«, in der vorgeführt wird, wie der Übergang vom einen zum anderen Wertsystem notwendig scheitern muß. Auch in der politischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wird immer wieder diskutiert, inwieweit dem politischen Handeln eine andere Moral zugrunde liege als dem privaten. Dies ist der Anfang einer wertepluralistischen Gesellschaft, in der »jeder nach seiner Fa~on« selig werden kann, solange er dieser seiner »Façon« nur treu bleibt.






Der zweite relativ stabile Zustand ist der des Modells »Gottesstaat«: Hier gibt es nur ein Wertsystem, dem sich alle Subsysteme unterordnen müssen. Das System Kunst also entwickelt beispielsweise seine hierarchiehöchsten Werte nicht aus einem internen Diskurs heraus – indem es, nur als Beispiel, etwa »Originalität« als seinen höchsten Wert setzt – sondern dieser höchste Wert ist durch ein religiöses, politisches oder sonstiges soziales Glaubenssystem vorgegeben: die möglichst reine Übermittlung der »höchsten Lehre« von Bibel oder Koran, von Karl Marx oder Adolf Hitler – auch totalitäre Staaten wie der nationalsozialistische oder der kommunistische funktionierten nach dem Modell des Gottesstaates.






Unsere Kultur – die westliche oder abendländische – war lange Zeit stolz darauf, daß sie mit der Aufklärung das Modell des Gottesstaates zugunsten der Ordnung der Trennungen überwunden hatte: Die Kunst war nach den aufklärerischen Vorstellungen autonom, das Individuum nach Kant moralisch autonom, die Wissenschaft unabhängig von Staat und Kirche. Das Wiederaufleben des Modells »Gottesstaat« in den totalitären Gesellschaftssystemen des 20. Jahrhunderts wurde und wird – zumindest im Westen – allenfalls als zeitlich begrenzter Rückschritt gesehen.






Glaubt man einem der in unserer Zeit vorherrschenden Diskurse, dem des Postmodernismus, ist die Ordnung der Trennungen in diesem Jahrhundert dabei, sich aufzulösen zugunsten eines »anything goes«: Das postmoderne Individuum könne zwischen gesellschaftlichen Subsystemen und damit auch zwischen Wertsystemen mit scheinbar freiem Willen auswählen. Tatsächlich gibt es Indizien für die Richtigkeit dieser Beobachtung: Künstler, die Philosopheme als Kunst präsentieren, Philosophen, die Texte, deren Struktur eher poetisch-literarisch ist, als wissenschaftliche ausgeben, Werbetreibende, die sich als Künstler fühlen, junge Banker, die das Wochenende durchraven, sind nur einige Beispiele für diese Tendenz. Es spricht also einiges dafür, daß die Freiheitsgrade hier in einer gewissen Weise tatsächlich zugenommen haben. Die eigene Zuordnung zu sozialen Subsystemen und zu Wertsystemen ist scheinbar mehr oder weniger beliebig, der eigenen Entscheidung überlassen, und vor allem ist sie temporär. Ein Beispiel dafür sind die Veränderungen im System der Geschlechterbeziehungen und der Ehe. Während sicher bis in die 50er und 60er Jahre die Regel galt: »Ein Partner fürs ganze Leben«, und das Eheversprechen eine ernste Entscheidung über eine unauflösliche Verbindung für das ganze Leben war, zeigen heute sowohl die Scheidungsraten als auch abfragbare Einstellungen zunehmend eine neue interpersonale Unverbindlichkeit, die intrapersonal zwischen den Polen Egozentrik und Selbstverantwortlichkeit oszilliert.






Eine Kultur, die sich in der beschriebenen Weise zu ihren interpersonalen Sub- und Wertsysternen verhält, ist naturgemäß dabei, diese Systeme aufzulösen; sie bestehen allenfalls noch im Raum der Kommunikation, der Zeichen fort als zunehmend ihrer Referenz beraubte Postulate. Wenn also diese Beobachtungen richtig sind, bewegt sich unsere Kultur auf einen Zustand wachsender Entropie von Werten und Sinnmodellen zu, wobei diese Beobachtung natürlich noch keinen direkten Schluß auf die Entwicklung intrapersonaler Systeme zuläßt.






Parallel zu dieser Entwicklung, und in vielfältiger Weise auf sie bezogen, läßt sich jedoch auch eine andere Tendenz beobachten, über die nicht so viel geredet wird, und die erst seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in einem übergreifenden Diskurs thematisiert zu werden scheint. Diese Tendenz ist gegenläufig zu der oben beschriebenen, und ist gleichzeitig im Sinne der Systemkohärenz eine ihrer Voraussetzungen: In unserer westlich-abendländischen Kultur etabliert sich ein alles überwölbendes Wertsetzungssystem, dem sich viele oder alle anderen psycho-sozialen Systeme teilweise oder völlig unterzuordnen beginnen. Dieses Wertsetzungssystem ist das des Marktes, der Marktwirtschaft.






Auch für diese Tendenz gibt es Indizien. Wir wollen einführend nur einige aufzählen; weitere Beispiele und ihre Diskussion sollen die Beiträge dieses Buches liefern.






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