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Hermann Scheer
Energieautonomie

Eine neue Politik für Erneuerbare Energien


München 2005 (Antje Kunstmann); 320 Seiten; ISBN
3-88897-390-2






Immer lauter tickt die Uhr für das überkommene Energiesystem. Doch der Einfluss der etablierten Energiekonzerne ist sogar noch gewachsen, und deren tiefe Missachtung der erneuerbaren Energien hat sich kaum geändert. Derzeit machen sie international mobil für eine „Renaissance“ der Atomenergie und dafür, die fossilen Energiereserven bis zu ihrer endgültigen Neige auszuschöpfen – der sarkastischen Bemerkung des polnischen Satirikers Stanislaw Lec folgend: „Wir befinden uns zwar auf dem falschen Gleis, gleichen dieses Manko aber durch erhöhte Geschwindigkeit aus.“ (...) Dieses Buch richtet sich vorwiegend an die wachsende Zahl der Verfechter erneuerbarer Energien und die noch größere Zahl der darauf Neugierigen. Es soll Wege beschreiben und Kräfte mobilisieren, mit denen ein unaufhaltsamer Durchbruch in naher Zukunft gelingen kann. Dem schwedischen Wirtschaftsnobelpreisträger und Soziologen Gunnar Myrdal zufolge kann ein gesellschaftliches Projekt durchgesetzt werden, wenn es nur von fünf Prozent passionierter Menschen zielstrebig und ausdauernd verfolgt wird. Diese werden dann weitere 25 Prozent der Gesellschaft mitziehen. Das reicht aus, weil die Mehrzahl der Menschen gewöhnlich indifferent ist – aber prinzipiell bereit, mit den bewegenden Kräften zu gehen, wenn diese eine überzeugende Perspektive für die Allgemeinheit haben. (Aus der Einführung)




Hermann Scheer beschreibt in diesem Buch die vielfältigen mentalen Barrieren, die „Macht des tradierten Energiedenkens“, zeigt aber auch, wie der Wechsel zu erneuerbaren Energien gelingen und unumkehrbar gemacht werden kann. Der archimedische Punkt dafür ist „Energieautonomie“ – als vielfältig realisierbares politisches, technologisches und wirtschaftliches Konzept. Energieautonomie ist nur mit erneuerbaren Energien realisierbar – und kann sofort und überall ins Werk gesetzt werden: dezentral, individuell, mit unmittelbar spürbaren Folgen. Die von Scheer entwickelte „neue Politik für erneuerbare Energien“ führt die Energiediskussion aus dem geistigen Gefängnis des spezialisierten Energiedenkens heraus. Ein ideeller und praktischer Leitfaden für die längst fällige Energiewende. (Aus dem Klappentext)




3Das Umschlagbild zeigt den Gestaltungsentwurf eines Twin Towers mit gebäudeintegrierten Windrotoren von Stefan Behling, Professor für Baukonstruktion an der Fakultät Architektur und Stadtplanung / Universität Stuttgart. Das Gebäudekonzept ist von der EU-Kommission als „Urban Wind Energy Conversion System (UWECS) gefördert. Die drei Windrotoren haben einen Durchmesser von 35 Metern und wären potentiell in der Lage, 100 Prozent des Strombedarfs des Gebäudes zu produzieren – und noch mehr, wenn Teile der Glasfassade aus Photovoltaikmodulen bestehen. (Bildnachweis)


Hermann Scheer


geb. 1944, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, war seit 1980 Mitglied des deutschen Bundestages, seit 1988 Präsident von EUROSOLAR, der Europäischen Vereinigung für erneuerbare Energien, und seit 2001 Vorsitzender des Weltrats für Erneuerbare Energien. Wurde für sein Engagement mehrfach international ausgezeichnet, u.a. mit dem Alternativen Nobelpreis (1999). Er starb am 14. Oktober 2010.


Inhaltsverzeichnis


Einführung
Erneuerbare Energien:
Der trügerische Konsens



Unaufhaltsamer Aufbruch oder Rückschlagsgefahr?



Mentale Hürden



Das unausgeschöpfte gesellschaftliche Potenzial






I. Sonne oder Atom:
Der Grundkonflikt des 21. Jahrhunderts






Lange überhörte Signale



Die Schwelbrände der sieben energiebedingten Weltkrisen



Die Weltklimakrise



Die Erschöpfungs- und Abhängigkeitskrise



Die Armutskrise der Entwicklungsländer



Die Atomkrise



Die Wasserkrise



Die Landwirtschaftskrise



Die Gesundheitskrise



Die wechselseitige Krisenansteckung



Genug Energie für alle: Das umfassende Potenzial erneuerbarer Energien



Die Möglichkeit des vollständigen Energiewechsels



Die schnelle Einführungsmöglichkeit



Die Verzichtbarkeit von Großkraftwerken



Der Effizienzvorteil erneuerbarer Energien



Die Unabhängigkeit von eingespielten Energiestrukturen



Die volkswirtschaftlichen Vorzüge



Warten auf Godot: Der fossile und atomare Autismus



Erdgas als Brücke zu erneuerbaren Energien?



Emissionsfreie Kohlekraftwerke?



Wasserstoffwirtschaft?



Renaissance der Atomenergie?



Die Atomfusion als letzter Strohhalm



Das letzte Aufbäumen des etablierten Energiesystems?






II. Handlungsblockaden:
Die ungebrochene Macht eindimensionalen Denkens






Die kulturelle Hegemonie der überkommenen Energiewirtschaft



Der »Heimspielvorteil«



Die Gedankenkanalisierung der eingeübten Energiesemantik



Inferioritätskomplexe durch »Energetical Correctness«



Die verlorene Identität der Energiepolitik



Atomare und fossile Energien als größter Subventionsfall der Weltwirtschaftsgeschichte



Energiekonsens aus Gewohnheit und Schwäche



Die Perversion von Energiesicherheit durch militärische Ressourcensicherung



Ausweichbewegungen vor der politischen Verantwortung



Die Scheinliberalisierung der Energiemärkte



Die dogmatische Gleichsetzung von Liberalisierung und Privatisierung



Planwirtschaft im marktwirtschaftlichen Anzug



Die verlogene Debatte über die Energiepreise



Keine Marktgleichheit ohne Chancengleichheit



Die Illusion globaler Verhandlungslösungen



Der unüberbrückbare Widerspruch zwischen Konsens und Beschleunigung



Die versäumte Chance der »Renewables 2004«



Die IRENA-Kontroverse als Lackmustest der internationalen Politik für erneuerbare Energien



Das Kyoto-Syndrom und das Elend moderner Energie- und Umweltökonomie



Das Minimum als Maximum



Mehr Bürokratie als Markt, mehr Emissionshandel statt -minderung



Die unselige ökonomistische Allianz



Der Missbrauch des Kyoto-Protokolls als Instrument gegen erneuerbare Energien



Sand oder Öl im Getriebe? Die verlorene Unschuld der Umweltbewegung



Umweltschutz ohne Problem- und Gefahrenhierarchie



Die Partikularisierung des ganzheitlichen Umweltgedankens



Schwächung durch Integrierung: die Umwelt-NGOs



Aktivierung oder Nihilismus? Energetische Weltkrise und Wertepolarisierung



Umweltkatastrophen und »No future«-Mentalitäten



Politische Neurosen und Wertespaltung






III. Energieautonomie:
Der archimedische Punkt des Durchbruchs zu erneuerbaren Energien






Die aktive Evolutionierung



Autonomie statt Integration



Unabhängige Verfügbarkeit statt Abhängigkeit



Politische Dezentralisierung statt Globalisierung



Freie Investitionen statt Investitionskontrolle



Vielfalt statt Marktharmonisierung



Ökologische Verantwortung statt Indifferenz



Die Aktivierung der Gesellschaft



Von der Sympathie zur Aktivierung



Die wertebestimmte Legitimationskraft erneuerbarer Energien



Spaltung und Neufundierung der Wirtschaft



Die erneuerbare Energie der Politik



Politische Selbstbehauptung statt transnationaler Energiestaat



Die Maximen des Energiewechsels



1. Die Wiedergewinnung geistiger Autonomie



2. Ein neues wirtschaftliches Entwicklungsmodell



3. Der prinzipielle Marktvorrang heimischer Ressourcen



4. Eine Rangfolge für die Substition konventioneller Energien



5. Die politische Umwandlung der volkswirtschaftlichen Vorteile erneuerbarer Energien in einzelwirtschaftliche Anreize



6. Die reale Entflechtung der Energiewirtschaft



7. Die staatliche Vorreiterrolle als Nutzer erneuerbarer Energien



8. Die Orientierung der Landschafts- und Stadtplanung an erneuerbaren Energien



9. Die Überwindung des Wissensdefizits



10. Das Gegenmittel zur drohenden Weltdepression: Der Konjunktursprung zu erneuerbaren Energien



Handlungsautonomie






Anmerkungen, Danksagung, Bildnachweis


Leseprobe


Aus: Das unausgeschöpfte gesellschaftliche Potenzial






»How long? Notlong!« Diese kurze Frage wie klare Antwort hämmerte Martin Luther King in den 60er Jahren der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ins Bewusstsein, um sie von der nahen Chance der Realisierung ihrer Ziele zu überzeugen. Mit solcher Entschlossenheit und Zuversicht wird die Phantasie vieler angeregt, die soziale Atmosphäre belebt sich, neue praktische Ideen sprießen. Dann sind in kurzer Zeit ungeahnte Entwicklungssprünge möglich. »How long? Very long!«: Dieses Denken dominiert leider bisher in der Diskussion über die Zeitperspektive des Energiewechsels. Selbst überzeugte Ökologen geben sich damit als »realistisch«. Aber lange Zeithorizonte entlassen Menschen aus ihrer unmittelbaren Verantwortung und führen dazu, die Angelegenheit den professionellen Experten zu überlassen. Die wichtigste Ressource für erneuerbare Energien – die gesellschaftliche – bleibt dann unausgeschöpft. Deshalb geht es mir vor allem darum, diejenigen Ansätze erneuerbarer Energien erkennbar zu machen, die auf die viel gestellte Frage »how long?« die Antwort »not long!« erlaubt.






Das Leitmotiv dafür ist Energieautonomie. Es ist gleichermaßen politisch, wirtschaftlich und technologisch gemeint. Es ist, als verallgemeinerbares Konzept, nur mit erneuerbaren Energien möglich. Energieautonomie ist aber nicht nur das Ergebnis eines Wechsels zu erneuerbaren Energien, sondern zugleich der harte Kern der praktischen Strategie: Autonome Initiativen von Individuen, Organisationen, Unternehmen, Städten und Staaten sind geboten, um das Ganze zu bewegen. Die neue Politik für erneuerbare Energien ist, diesen Initiativen die Räume zu öffnen, in denen sie sich ungehindert entfalten können.









Mentale Hürden






Mit ihrer noch überwiegend zögerlichen Einstellung zu erneuerbaren Energien lebt die Welt weit unter den sich aufdrängenden Notwendigkeiten und den gegebenen Möglichkeiten. Dagegen lebt sie mit atomaren und fossilen Energien weit über ihre Verhältnisse. Dieser Widerspruch lässt sich auch nicht allein an der Einflussmacht des auf fossile und atomare Energien ausgerichteten Energiesystems erklären, dessen systemerhaltendes Interesse und strukturkonservierendes Verhalten relativ berechenbar ist. Die überkommene Energiewirtschaft ist Gefangene ihrer eigenen Energieversorgungskette, deren technische, wirtschaftliche, soziale und nicht zuletzt politische Verstrickungen ich in meinem Buch »Solare Weltwirtschaft« beschrieben habe. Aber sie ist nicht allmächtig. Sie kann nicht den gesamten Politik- und Wirtschaftsbetrieb, die Wissenschaft und die Medien geistig lenken und korrumpieren.






Was hält also diejenigen, die nicht direkt oder indirekt in das überkommene Energiesystem involviert sind, davon ab, den Wechsel zu erneuerbaren Energien konsequent und mit der nötigen Konfliktbereitschaft voranzutreiben? Warum gibt es bisher keine politischen Initiativen, die die erneuerbaren Energien auch wirtschaftlich ebenso ambitioniert und konkret als Zukunftsprojekt vorantreiben, wie es für den Bau von Eisenbahnen, bei der Raumfahrt, der Atomtechnologie und erst jüngst der Informationstechnologie möglich war? Warum gibt es immer noch keine europäischen oder internationalen Institutionen für erneuerbare Energien, wie sie EURATOM oder die European Space Agency (ESA) in ihrem Sektor darstellen oder die Internationale Agentur für Atomenergie (IAEA)? Diese Fragen nach den Akteuren und den Handlungsfeldern für und gegen erneuerbare Energien müssen beantwortet werden, um erkennbar zu machen, wie der Wechsel zu diesen entscheidend beschleunigt werden kann.






Es sind Fragen nach der jeweiligen Verhältnismäßigkeit, die an politische Institutionen, »die Wirtschaft«, »die Wissenschaft«, an »die Medien« und auch an das Akteursspektrum im Umweltschutz gestellt werden müssen. Fragen etwa nach der Maßstabslosigkeit, mit der vielerorts aus Gründen lokalen Naturschutzes die Errichtung von Wind- und kleinen Wasserkraftanlagen verbissen verweigert wird, obwohl längst die Natur insgesamt durch die Abfallprodukte atomarer und fossiler Energienutzung bedroht ist. Oder nach den absurden Wertmaßstäben, mit denen Aktionsprogramme für erneuerbare Energien davon abhängig gemacht werden, ob sie bestimmten Marktdogmen entsprechen. Oder denken wir an den im eklatanten Gegensatz zu seinen kleinmütigen Ergebnissen stehenden Großaufwand für internationale Regierungskonferenzen mit der Karawane aus Umweltdiplomaten und NGO-Vertretern, die alle nicht konsensträchtigen Punkte aussondern. Dort wird über alles geredet, aber meistens um die brisantesten Punkte herum.






(...)






Selbstverständlich sind für die Realisierung des Energiewechsels viele praktische Hürden zu überwinden, die es neben den bekannten Widerständen gibt – administrative, technologische und wirtschaftliche. Die größten Hürden aber sind die mentalen, die in den Köpfen. Sie begründen den Widerspruch zwischen der insgesamt nur schleppend vorankommenden Nutzung der erneuerbaren Energien trotz der wahrgenommenen Gefahren der atomaren und fossilen Energienutzung. Diese mentalen Hürden stehen dem Erkennen und Ergreifen der Perspektive erneuerbarer Energien mehr als alles andere entgegen. Aus ihnen resultieren unzulängliche Konzepte und die ausweichende Behandlung der entscheidenden Frage: Wer sind die geeigneten – das heißt ausreichend motivierten, handlungsfähigen und unabhängig operierenden – gesellschaftlichen Träger, die den Energiewechsel umsetzen wollen und können? Beide – Konzept und Träger – hängen unmittelbar miteinander zusammen. Konzepte können keine beliebigen Träger haben, und nicht alle vorhandenen oder potenziellen Träger sind für jedes Konzept geeignet. Und je nach Konzept und Träger sind die jeweiligen Widerstände und zu ergreifenden Methoden unterschiedlich. Für die strategische Profilierung erneuerbarer Energien, die das Thema dieses Buches ist, ist die Klärung dieser Fragen von ausschlaggebender Bedeutung.






Die mentalen Hürden resultieren aus fragwürdigen Prämissen, die die Diskussion über erneuerbare Energie durchziehen und einer näheren Überprüfung nicht standhalten. Sie haben axiomatischen Charakter, d. h., sie stützen sich auf Grundannahmen, die als feststehende Tatsache gelten und deshalb angeblich keiner weiteren Begründung bedürfen. Wer immer einer solchen Prämisse nicht widerspricht, muss sich wohl oder übel deren – dann ganz logisch abgeleiteten – Konsequenzen beugen, auch wenn diese höchst unbefriedigend sind. Bei strittigen Fragen mit großer Breitenwirkung steht man in der Regel mehreren solcher Prämisse gegenüber. Der amerikanische Soziologe Amitai Etzioni nennt das die »Gemeinschaft von für selbstverständlich gehaltenen Grundannahmen« (»community-of-assumptions«). Sie werden von den gesellschaftlichen Funktionseliten nahezu geschlossen geteilt, repräsentieren deren Sicht der Dinge und werden »gewöhnlich vertreten, ohne dass ihre Anhänger sich ihrer hypothetischen Natur bewusst sind«. Diese nehmen dann an, dass die »Welt wirklich so aussieht, wie ihre internalisierten und institutionalisierten Vorstellungen sie beschreiben«, und messen diesen »absolute Gültigkeit zu«. Meinungsunterschiede werden »nur innerhalb der Grenzen fundamental gleicher Interpretationen geduldet«.So entstehen »herrschende Meinungen«, sorgsam gepflegt und sogar von denen respektiert, die es besser wissen.






Abgesehen von notorisch gestreuten und in vielen Schriften widerlegten technischen Desinformationen über erneuerbare Energien sind es im Wesentlichen sieben fragwürdige technisch-wirtschaftliche Prämissen und sechs Prämissen politischen Handelns, die als von vornherein feststehende und kaum verrückbare Tatsache gelten. Wer immer diese – oder auch nur einige davon – übernimmt, landet bei Sichtweisen und Konzepten, die das Potenzial der erneuerbaren Energien nur partiell zur Kenntnis nehmen und es deshalb unausgeschöpft lassen.






Die fragwürdigen technisch-wirtschaftlichen Prämissen sind:






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das unzureichend verfügbare Potenzial: Das nutzbare Potenzial erneuerbarer Energien reiche nicht aus, um auf atomare und/oder fossile Energien verzichten zu können. Diese Prämisse lässt den langfristigen Einsatz konventioneller Energien als Sachzwang erscheinen, der trotz aller Gefahren hingenommen werden müsse.







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der lange Zeitbedarf: Die Aktivierung erneuerbarer Energien sei nur langfristig in großem Ausmaß möglich. Auch auf längere Sicht seien deshalb Investitionen für die konventionellen Energien in erheblichen Größenordnungen unverzichtbar, um den Energiebedarf der Menschen befriedigen zu können. Diese unter dem Deckmantel der Befürwortung erneuerbarer Energien geäußerte Prämisse soll vermitteln, dass man sich mit der Einführung erneuerbarer Energien Zeit lassen und so lange die Weiterführung der überkommenen Energieversorgung tolerieren müsse.







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die unbedingte Notwendigkeit von Großkraftwerken: Der Mengenbedarf einer großindustriellen und urbanisierten Massengesellschaft sei ohne großtechnische Energieanlagen nicht zu befriedigen, wofür aber die überwiegend über kleintechnische Anlagen nutzbaren erneuerbaren Energien nicht taugten. Auch diese Prämisse dient der Akzeptanzsicherung der Großkraftwerke. Sie verführt dazu, die Technologie der erneuerbaren Energien auf zentrale Anlageformen auszurichten und die wesentlich vielfältigeren und schneller einführbaren dezentralen Anwendungsformen zu vernachlässigen.







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der größere Umwelteffekt durch Effizienzsteigerung bei konventionellen Energien: Investitionen in die Steigerung der Energieeffizienz konventioneller Energieanlagen und in Energieverbrauchsgeräte würden sehr viel kostengünstiger und schneller zur Problemlösung beitragen. Diese Prämisse wird gegen Initiativen für erneuerbare Energien ausgespielt, als sei nicht beides gleichzeitig möglich und nötig.







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der funktionale Vorrang der bestehenden Energieversorgungsstrukturen: Erneuerbare Energien müssten den vorhandenen Strukturen der Energiebereitstellung entsprechen, mit diesen also kompatibel sein. Die gegebene Struktur gilt – besonders in der Stromversorgung – als objektives technisches Erfordernis. Diese Prämisse macht den Status quo zum Maßstab der Tolerierbarkeit der erneuerbaren Energien und behauptet eine unschuldige Neutralität der Versorgungsstrukturen gegenüber allen Energiequellen, die es aber nie gab und auch nicht geben kann.







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die Schonung volkswirtschaftlicher Ressourcen: Alle energiepolitischen Entscheidungen müssten darauf bedacht sein, Kapitalvernichtungen in der Energiewirtschaft zu vermeiden. Damit werden die Belange der Volkswirtschaft mit denen der Energiewirtschaft identifiziert. Hinter dieser Prämisse verbirgt sich eine planwirtschaftliche Vorstellung, die unausrottbar zum Selbstverständnis der überkommenen Energiewirtschaft und der auf diese ausgerichteten Energiepolitik gehört. Sie geht auch wie selbstverständlich davon aus, dass die Energiewirtschaft der alleinige Träger für alle Energieangebote bleibt – eine Annahme, die in Bezug auf erneuerbare Energien absolut irrig ist.







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die wirtschaftliche Last der Einführung erneuerbarer Energien: Diese Prämisse lenkt systematisch von den wirtschaftlichen Folgeschäden herkömmlicher Energien und dem breiten wirtschaftlichen und sozialen Nutzen erneuerbarer Energien ab. Sie versucht, Gegenwarts- gegen Zukunftsinteressen auszuspielen und Gesellschaftsmitglieder zu egoistischem Verhalten gegen das Gemeinwohl zu ermuntern.







Diese technisch-wirtschaftlichen Grundannahmen suggerieren allesamt objektive Sachzwänge, die einer groß angelegten Umorientierung auf erneuerbare Energien entgegenstünden.






Andere Prämissen beziehen sich auf die politischen Handlungsfelder und -methoden:






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die Subventionsabhängigkeit erneuerbarer Energien: Mit dieser Prämisse wird davon abgelenkt, dass die Subventionen für die atomaren und fossilen Energien nicht nur – wie noch zu zeigen sein wird – um ein Vielfaches höher waren und immer noch sind als die bisher für alle erneuerbaren Energien bereitgestellten. Sie lenkt auch davon ab, dass es längst Möglichkeiten zur Nutzung erneuerbarer Energien gibt, die nicht auf Subventionierung angewiesen sind, sondern nur auf die Aufkündigung der Privilegierung atomarer und fossiler Energien.







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der Konsensbedarf mit der Energiewirtschaft: Die Stellung und damit der Einfluss der etablierten Energiewirtschaft seien so groß, dass ein Energiewechsel letztlich nur mit dieser gelingen könne. Trotz großer Konflikte müsse man deshalb mit der Energiewirtschaft zum Konsens kommen. Diese Prämisse akzeptiert das Handlungsmonopol der Energiewirtschaft in allen Fragen der Energieversorgung, als wäre diese allein in der Lage, die Menschen mit Energie zu versorgen. Der Status der Energiewirtschaft erhält damit eine gedankliche »Ewigkeitsgarantie«, als handele es sich bei ihr um ein Verfassungsorgan.







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die Fixierung auf die Wettbewerbsfähigkeit auf den Energiemärkten: Da die Liberalisierung der Energiemärkte der generelle Trend sei, müssten auch die Förderprogramme für erneuerbare Energien auf diese ausgerichtet werden. Diese Prämisse gibt »dern Energiemarkt« den Vorrang vor allen anderen Entscheidungsmaßstäben. Sie übersieht, dass es bei der Mobilisierung erneuerbarer Energien in erster Linie um Technikmärkte und nur noch teilweise um den Energiemarkt geht.







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die Unverzichtbarkeit vertraglicher globaler Verpflichtungen: Da die Energieprobleme global auftreten, könne – aus Gründen der wirtschaftlichen Lastenverteilung im internationalen Wettbewerb – die Problemlösung auch nur in vertraglich ausgehandelten und alle verpflichtenden globalen Gemeinschaftslösungen liegen, deren unvermeidliche Kompromisse als Handlungslimit akzeptiert werden müssten. Wiederum werden damit die sozialen Nutzenvorteile erneuerbarer Energien in den Hintergrund gedrängt. Diese Prämisse übersieht außerdem, dass technologische Durchbrüche nie einem international vertraglich abgestimmten Handeln entsprungen sind und alles dagegen spricht, dass sie aus einem solchen hervorgehen könnten. Sie führt dazu, die öffentliche Aufmerksamkeit und die Handlungskraft der Akteure auf internationale Vertragskonferenzen zu konzentrieren, trotz deren höchst unzureichender Ergebnisse, und andere Initiativen außer Acht zu lassen.







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die Umweltbelastungen durch erneuerbare Energien: Da auch die Nutzung erneuerbarer Energien zu Umweltbelastungen führe, müsse deren Einführung genauso auf ihre Umweltverträglichkeit geprüft werden wie atomare und fossile Energien. Diese Prämisse verwischt die elementaren Unterschiede zwischen tatsächlichen Umweltzerstörungen und verhältnismäßig marginalen Umwelteingriffen, zwischen irreversiblen und reversiblen Umweltlasten oder zwischen schadstoffproduzierenden und schadstofffreien, aber Raum beanspruchenden Energieanlagen.







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der Realismus der kleinen politischen Schritte: Da kleine Schritte geringeren Widerstand hervorrufen würden und deshalb leichter durchzusetzen seien, sei es ein Gebot des Realismus, die politischen Instanzen, die Wirtschaft und die allgemeine Öffentlichkeit nicht mit zu weit gehenden Ansätzen zu erschrecken. Diese Prämisse kommt einer Kapitulation vor den tatsächlichen Problemen gleich, da kleine politische Schritte ganz offensichtlich nicht ausreichen, um das weltbedrohliche Problem der hergebrachten fossilen und atomaren Energieversorgung zu lösen.






All diese einseitigen Prämissen verstellen den Blick auf das tatsächliche Potenzial der erneuerbaren Energien und auf Erfolg versprechende Lösungswege. Sie sind geronnene Vorurteile, die die Diskussion verwirren und zu reduktionistischen Strategien sowie zur Hinnahme der gegebenen Energieverhältnisse führen – nicht nur unter energiewirtschaftlichen Akteuren, auch in der Politik, im Wirtschaftsprozess, im Wissenschaftsbetrieb, in der Öffentlichkeit und selbst in den Perspektivüberlegungen von Organisationen für erneuerbare Energien und Umweltorganisationen. Vorurteile sind für einzelne Menschen relativ leicht überwindbar, durch Information und Erkenntnissprünge, die die Schuppen von den Augen fallen lassen. In der Gesellschaft insgesamt aber gelingt das nur schwer, besonders wenn diese Vorurteile laufend weiter kultiviert werden. Vor allem durch diejenigen, die von ihrer Fortdauer profitieren und sie deshalb permanent lautstark bekräftigen. Nicht zufällig sind es gerade Energiespezialisten, denen es oft besonders schwer fällt, die mentalen Hürden gegenüber erneuerbaren Energien zu überwinden. Diese beiseite zu räumen und die gesamte Energiediskussion aus ihrer geistigen Enge herauszuführen, ist die wichtigste Bedingung für einen Energiewechsel.






Zu den Folgen falscher Prämissen gehört auch, sich in der Diskussion allein auf einen Ausschnitt des Gesamtproblems zu beziehen, nur darauf bezogene Handlungsanleitungen zu entwickeln und diese allen anderen Problemen überzuordnen – und dabei andere Problemlösungen aus dem Auge zu verlieren. Diese Reduktionsmuster durchziehen die Energiediskussion. (...) Stets ergibt sich aus solchen Reduktionen eine Vernachlässigung der vielfältigen und äußerst schwer wiegenden Gründe, die jeweils für sich für einen generellen Wechsel zu erneuerbaren Energien sprechen. Das breite Spektrum von Gründen für eine umfassend angelegte Strategie ergibt sich aus vier elementaren Unterschieden zwischen atomaren und fossilen Energien einerseits und erneuerbaren Energien andererseits






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Der Einsatz von atomaren und fossilen Energien bedingt massive Umwelteingriffe, mit erdtektonischen Folgen schon bei der Förderung bis hin zu den Emissionen in die Gewässer, die Luft und in die Erdatmosphäre insgesamt; erneuerbare Energien sind dagegen prinzipiell frei von solchen Folgen nutzbar. Daraus ergibt sich das über das Klimaschutzmotiv hinausgehende generelle Umweltmotiv für erneuerbare Energien. Selbst wenn es das Klimaproblem nicht gäbe, würden immer noch massive ökologische Gründe für den Energiewechsel sprechen.







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Die fossilen Energien sind erschöpflich, weshalb ihre fortgesetzte Nutzung unweigerlich zu steigenden Kosten und zu Versorgungsengpässen und -notständen führen muss. Allein die unerschöpfliche erneuerbare Energie eröffnet allen Menschen eine dauerhaft gesicherte Energieversorgung. Daraus ergibt sich das Motiv einer dauerhaft gesicherten Energieverfügbarkeit, das für erneuerbare Energien spricht.







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Die atomaren und fossilen Energiereserven liegen in relativ wenigen Förderregionen des Erdballs, sodass für deren Nutzung lange internationale Bereitstellungsketten erforderlich sind. Dies bedingt unvermeidlich einen hohen Infrastrukturaufwand, führt zu wachsenden existenziellen Abhängigkeiten und provoziert wirtschaftliche, politische und kriegerische Konflikte. Die erneuerbaren Energien hingegen sind natürliche Umgebungsenergie, die überall mit technischer Hilfe unmittelbar gewonnen werden kann und dies mit wesentlich geringerem Infrastrukturbedarf. Daraus ergeben sich für erneuerbare Energien Motive wie die der volkswirtschaftlichen Effizienz, der politischen Unabhängigkeit und der Friedenssicherung.






Die fossilen und atomaren Energien werden aufgrund der genannten Unterschiede immer teurer, bezüglich ihrer direkten wie der indirekten Kosten. Die erneuerbaren Energien werden dagegen – schon deshalb, weil für sie (mit Ausnahme der Bioenergie) keine Brennstoffkosten anfallen – i m Zuge ihrer laufenden technologischen Verbesserungen, industrieller Massenproduktion und intelligenter neuer Anwendungsformen immer billiger. Daraus ergeben sich soziale und wirtschaftsstrategische Motive für erneuerbare Energien.






Alle diese Motive verdichten sich zu einem ebenso umfassenden wie existenziellen Motiv der Krisenüberwindung und -vermeidung, das angesichts verschiedener, in Teil II behandelter weltweiter Krisen, die ihre Ursache unmittelbar oder mittelbar im heutigen Energiesystem haben, von höherer Brisanz ist denn je. Der Schlüssel zur Lösung energetisch bedingter Krisen ist der Wechsel zu erneuerbaren Energien. Die Konzentration darauf ist kein »one-issue«-, sondern ein »multi-issue«-Ansatz.


Siehe auch


Hermann Scheer: Atomenergie oder Erneuerbare Energie? Oder: Wer ist Godot?Eine Antwort auf James Lovelock (Gaias Rache“), der sich (befremdlicherweise) eine Energiewende ohne Atomenergie nicht vorstellen kann.



Hermann Scheer: Der EnergEthische Imperativ100 % jetzt: Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist