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Gerd Zeitler
Der Freihandelskrieg

Von der neoliberalen zur zivilisierten Globalisierung
Eine Perspektive für Vollbeschäftigung


Münster 2006 (Monsenstein und Vannerdat); 392 Seiten; ISBN 978-3-86582-376-2








Führt uns der globale Freihandel mit seinen „naturgesetzlichen Zwängen“ tatsächlich in eine bessere Welt? Oder ist „Freihandel“ nur ein Euphemismus für eigennützige Markteroberungen? Gerd Zeitler analysiert mit ökonomischem Scharfblick, wie im Streben nach wirtschaftlicher Hegemonie unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstört werden. Und er skizziert einen Weg in eine zukunftsfähige Wirtschaftsordnung, eine Ordnung, die förderlichem Wettbewerb und nutzbringendem Außenhandel verpflichtet ist. Dieses Buch ist ein Bekenntnis zur sozialen und ökologisch Marktwirtschaft und zur Demokratie und ein Leitfaden zur Umkehr aus der neoliberalen Sackgasse.


Gerd Zeitler


geboren 1940, hat nach dem Ingenieurstudium seit den Siebziger Jahren internationale Unternehmensallianzen mitgestaltet, war im fachlichen Austausch zwischen Industrie und Wirtschaftswissenschaft engagiert und als Gastdozent für strategisches Unternehmens- und Technologiemanagement tätig. Gerd Zeitler lebt in München.


Inhaltsverzeichnis


Vorwort






I. Einleitung






Rückblick: Die industriellen Akteure nutzen ihre historische Chance



Ausgangslage: Entgrenzte Märkte, schwindende Demokratie




Entgrenzte Marktwirtschaft – Befindlichkeiten – Entdemokratisierung



Aussichten: Der Weg in eine demokratisch legitimierte Ordnung




Ausgleichende versus ideologische Ordnung – Regionale versus globale Ordnung – Die Herausforderung – Programm und Prozess






II. Neoliberalismus
Ursachen, Folgen, Folgerungen






Überblick: Mit doktrinärer Programmatik in die Selbstzerstörung




Die Doppeldeutigkeit des Begriffs – Die neoliberale Doktrin in Kurzfassung



Die gesellschaftliche Entwicklung: Ein Blick auf und hinter die Statistik




Wohlfahrtsmindernde Ungleichverteilung – Dramatische Unterbeschäftigung – Entmutigender Arbeitsmarkteinstieg – Endstation Armut



Offene Finanzmärkte, Standortwettbewerb und Kostenverlagerung




Ausgangslage – Grenzenlos unkontrollierter Kapitalverkehr – Staatsanleihen für Konsum und Haushaltslöcher – Professionelle Zockerei am Aktienmarkt – Die Spekulationsblase Mannesmann – Eine neue Lotterie namens Hedge-Fonds – Industriestandorte im globalen Ausverkauf – Der zerstörerische Kosten- und Innovationsdruck – Kostenverlagerung als Mittel blendender Produktivität – Ausblick Finanzmärkte und Kapitalkontrollen – Ausblick Standortwettbewerb und Kapitalmobilität – Ausblick Kostenverlagerung und Produktivität



Die Mär vom Wohlstand durch vollständige Spezialisierung




Smith und Ricardo – Ricardo und der Wechselkurs – Ricardo und die Spezialisierung – Ricardos Beitrag zur ökonomischen Theorie und Praxis – Ausblick



Freihandel und Anarchie: Eine zwangsläufig teuflische Symbiose




Ausgangslage – Das multilateralistische Regime der WTO – Das zentralistische Regime der EU – Die besondere Lage der Hochlohnländer – Die besondere Lage der Niedriglohnländer – Weitere Auswirkungen des Freihandels – Ein Gedankenexperiment zur Integration ungleicher Märkte – Ausblick



Der Ruf nach Wachstum als Deckmantel eigennütziger Expansion




Ausgangslage – Die Grenzen quantitativen Wachstums – Die ökonomischen Irrtümer – Binnen- versus Exportwachstum – Wachstum und Beschäftigung – Volkswirtschaftliches versus unternehmerisches Wachstum – Ausblick



Faktor Arbeit unterm Kostenjoch des Verdrängungswettbewerbs




Ausgangslage – Die neoliberale Sicht des Arbeitsmarktes – Abschied von der Vollbeschäftigung – Das fruchtlose Gezerre um Arbeitszeiten – Arbeitszeitmodelle – Entlassung in den globalen Wettbewerb – Der Niedriglohnsektor: Arbeit in Armut – Armut unter Vollzeitbeschäftigten – Das Grundrecht auf Arbeit – Ausblick



Drohende Eskalation: Dienstleistungen im Visier von EU und WTO




Ausgangslage – Der geplante Ausverkauf der Daseinsvorsorge – Die Konzentration kapitalintensiver Dienstleistungen – Dumping bei arbeitsintensiven Dienstleistungen – Ein weiterer Rückschlag für die Entwicklungshilfe – Ausblick



Der unterbundene Handel mit Wissen und geistigem Eigentum




Ausgangslage – Ausblick



Die öffentliche Daseinsvorsorge: Neues Objekt industrieller Begierde




Ausgangslage – Die fehlende Abgrenzung öffentlicher Güter – Die gebotene Langfristigkeit staatlicher Vorsorge – Neoliberale Beispiele – Ausblick



Technologische Fixierung: Eine trügerische Zukunftssicherung




Ausgangslage – Der Glaube an technologische Patentrezepte – Reparaturen am Ende der Wertschöpfung – Fragwürdige Innovations-Initiativen – Ausblick – Max-Planck-Institut (MPI) – Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Frauenhofer-Gesellschaft (FHG) – Fazit



Notgedrungen: Missmanagement infolge industrieller Gigantomanie




Ausgangslage – Ausblick



Landwirtschaft zwischen lokalem Auftrag und globaler Verlockung




Ausgangslage – Ein Negativbeispiel aus den USA – Gentechnisch veränderte Produkte – Gefährliche Koexistenz auf dem Acker – Agrarpolitik und Gesundheit – Ausblick



Entwicklungsländer am Gängelband von Industrie und WTO




Ausgangslage – Ausblick



Wie die Bevölkerungsentwicklung instrumentalisiert wird




Ausgangslage – Ausblick



Zusammenfassung: Der neoliberale Teufelskreis und seine Folgen




Im Fokus der Kritik – Fazit






III. Prinzipien wirtschaftlicher Ordnung
Vision selbstbestimmter Binnen- und Außenwirtschaft






Vorbemerkungen



Prinzipien regionaler Ordnung




Die lebendige, subsidiär strukturierte Demokratie – Die autonomen regionalen Wirtschaftsräume – Die subsidiär strukturierten privaten und öffentlichen Sektoren – Die sozialökologische, strukturbildende Besteuerung – Die subsidiäre Arbeitsteilung und Spezialisierung – Die eigenständigen, kleinräumigen Wirtschaftskreisläufe – Die sozial und ökologisch definierte Produktivität – Die effiziente Nutzung natürlicher Ressourcen – Das dynamische qualitative Wirtschaftswachstum – Die ortsgebundenen Pflichtigkeiten des Produktionskapitals – Die Technologie im Dienste der Nachhaltigkeit – Die wahre Preisbildung auf freien, geregelten Märkten – Der konstruktive, fortschrittsfördernde Wettbewerb – Das beschäftigungs- und umweltbezogene Gleichgewicht – Die öffentlichen Güter im Mittelpunkt der Daseinsvorsorge – Die Regelethik als Instrument der Gerechtigkeit – Die solidarische nachgeordnete Verteilungsgerechtigkeit



Prinzipien globaler Ordnung




Der Handel und der Wettbewerb mit materiellen Produkten – Das multi-bilaterale Wechselkurssystem – Der globale Freihandel mit geistigem Eigentum – Die pflichtgebundene Mobilität der Produktionsfaktoren – Die interregionale und supraregionale Zusammenarbeit – Die strukturgerecht förderliche Entwicklungshilfe -






IV. Schritte zur Umsetzung
Vom Verdrängungs- zum Wisenswettbewerb






Vorbemerkungen




Zum Kern des Problems – Das politische Postulat – Die politische Aufklärung – Viele Wege, ein Ziel – Demonstrationsobjekt EU



Phase 1: Vorbereitende Maßnahmen




Außenwirtschaftliche Autonomie – Entwicklungshilfe zur Eigenständigkeit – Arbeitsmarktstatistik – Armuts-/Reichtumsstatistik – Bürgerversicherungen – Progressiver Einkommenssteuertarif – Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung – Unternehmerisches Controlling – Gentechnikfreie Landwirtschaft und Lebensmittel



Phase 2: Dezentralisierung der Wirtschaft




Wiederherstellung der öffentlichen Daseinsvorsorge – Volksentscheide für die Daseinsvorsorge – Ausbau der Kartell- zu Wettbewerbsbehörden – Sozialer und ökologischer Fortschritt – Gesamtsteuerung der Wirtschaft – Realwirtschaftliche Ausrichtung der Finanzmärkte – Beschränkung von Kapitaltransfers – Umbau multinationaler Unternehmen – Wiederaufbau zerstörter Industrien – Ökologisierung der Landwirtschaft – Teilhabe abhängig Beschäftigter – Aufgabe der Gewerkschaften



Phase 3: Umstellung des Außenhandels




Handel mit komparativen, relativen Vorteilen – Globaler Freihandel mit geistigem Eigentum



Phase 4: Abschließende Maßnahmen




Verträgliche Bevölkerungsdichte – Supranationale Zuständigkeiten






Schlussbemerkung






Anhang



Glossar wirtschaftlicher Begriffe



Eine Auswahl von Scheinargumenten



Quellennachweis



Literaturempfehlungen


Leseprobe


Vorwort






Jeder kennt sie, die täglichen Pressemitteilungen, in denen Unternehmen die Auslagerung von Produktionsstätten und Arbeitsplätzen in sogenannte Billiglohnländer ankündigen. Der Exodus von Sach- und Geldkapital ist zum Markenzeichen einer Entwicklung geworden, die von den Protagonisten mit der Gefährdung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit begründet wird. Die deutschen Arbeitskosten seien einfach zu hoch, wird erklärt. Können wir dieser Begründung trauen? Kann uns der Ausverkauf unseres Volksvermögens am Ende in eine bessere Zukunft führen?

Die Häufung der Hiobsbotschaften führt sichtlich zu allgemeiner Verunsicherung. Auch wer als abhängig Beschäftigter oder lokaler Unternehmer höchste Leistung erbringt, muss fortwährend damit rechnen, im globalen Vergleich von Löhnen und Preisen aus dem Rennen geworfen zu werden. Bei der Aussicht auf Dritte-Welt-Entlohnung oder Arbeitslosigkeit wird die Angst um die persönliche Zukunft für immer mehr Menschen zum ständigen Begleiter. Globale Akteure scheuen sich nicht, die Verunsicherung zusätzlich zu schüren, indem sie die Legende von der gespaltenen deutschen Wettbewerbsfähigkeit in die Weit setzen: Die multinational agierenden Unternehmen seien mit ihrem hochentwickelten Produktionskapital allemal wettbewerbsfähig, behaupten sie, die deutschen Arbeitnehmer seien es dagegen nicht, weil sie auf ihrem hohen Lohnniveau beharrten. Die Legende bleibt nicht ohne Wirkung, weil sie den Protesten gegen weitere Job-Verlagerungen argumentativ die Spitze nimmt.

Die Reihe der Argumente, mit denen der gegenwärtige Wirtschaftskurs verteidigt wird, ist lang. Alle haben jedoch eines gemein: sie wurzeln in der doktrinären Vorstellung, die gegenwärtige Globalisierung folge unabänderlichen Zwängen, die wir – Naturgesetzen gleich – anerkennen und gutheißen müssten, um aus der Entwicklung Nutzen zu ziehen. Damit werden die Verhältnisse freilich auf den Kopf gestellt. Denn wenn es Sinn und Zweck wirtschaftlicher Handlungen ist, für ein besseres Leben zu sorgen, dann ist es unser Recht und unsere Pflicht, über diese Handlungen frei und unabhängig zu entscheiden. Einzig und allein die Begrenztheit unserer natürlichen Lebensgrundlagen müssen wir als unabänderlich anerkennen. Und nur indem wir unsere unmittelbare Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt wahrnehmen, können wir im eigenen Umfeld eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung erwarten und zugleich einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der globalen Entwicklung leisten.

Die Verlagerungen von Produktionen und Arbeitsplätzen der vergangenen Jahre reihen sich zu einer spektakulären Chronik des wirtschaftlichen Niedergangs aneinander. Die statistischen Daten sprechen eine überdeutliche Sprache: Von 1991 bis 2005 sind in Deutschland 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze bzw. 3,8 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen verlorengegangen. Das ist ein Verlust von durchschnittlich 1300 bzw. 1000 Jobs an jedem einzelnen Arbeitstag über einen Zeitraum von 14 Jahren! Rein rechnerisch müsste unser Wirtschaftsleben in 60 Jahren völlig zum Erliegen kommen, möglicherweise abgelöst durch eine selbstgenügsame Wirtschaftsweise auf niedrigstem Niveau. Der Niedergang schließt alle Wirtschaftssektoren ein, auch den der Dienstleistungen, in den so viel Hoffnung gesetzt wurde. Unserer Volkswirtschaft gelingt es unter den Bedingungen »liberalisierter« globaler Märkte immer weniger, alle Bürger selbstbestimmt und existenzsichernd ins Wirtschaftsleben einzubeziehen.

Die Bemühungen zur Gestaltung einer sozial- und umweltverträglichen Wirtschaft laufen nicht nur in Deutschland ins Leere. Seitdem nationale Regierungen dazu übergegangen sind, ihre Vollmachten an supranationale Institutionen wie die Europäische Union und die Welthandelsorganisation abzutreten, sitzt die Weltgemeinschaft mehr und mehr in einem Boot. Diese Tendenz wird von Illusionen beflügelt, die sich von zentralen Entscheidungen wirksamere und wirtschaftlichere Lösungen für nationale und regionale Probleme weltweit versprechen. Aber wie sollen derartige Lösungen zustande kommen, wenn die Betroffenen vor Ort politisch und wirtschaftlich entmündigt werden, wenn Entscheidungen ohne demokratische Legitimation und ohne unmittelbare Verpflichtung getroffen werden? Die Erfahrung zeigt denn auch, dass der Globalisierungsprozess oligarchische Strukturen hervorbringt, in denen globale Akteure eigennützig die Fäden ziehen, während sich der Beitrag aufgeblähter Bürokratien in Europäischer Union und Welthandelsorganisation in dem Versuch erschöpft, die konkurrierenden globalwirtschaftlichen Interessen unter einen Hut zu bringen.

Das von diesen Interessen vorgegebene Denkmuster, das den Weg der gegenwärtigen Entwicklung vorgezeichnet hat, wird allerdings bei Wahlen immer noch demokratisch legitimiert – wenn auch in repräsentativen Demokratien meist indirekt. Aber können wir deshalb sicher sein, dass wir uns auf dem Weg in eine bessere Weit befinden? Sind wir nicht bei zunehmender Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichverteilung wie auch angesichts der fortschreitenden Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet, unser wirtschaftliches Verhalten kritisch zu hinterfragen? Ist es nicht an der Zeit, nach Wegen zu suchen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Zukunft in eigener Verantwortung in ihrem eigenen Lebensumfeld zu gestalten? Bedarf es nicht eines im Lokalen und Regionalen verankerten Fundaments, um einen fruchtbaren globalen Austausch zu ermöglichen?

Das vorliegende Buch ist als entschiedener Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen gedacht. Zu diesem Zweck untersuche ich im Anschluss an das einleitende Kapitel im Kapitel II zunächst die Ursachen der gegenwärtigen Entwicklung, um dann vor diesem Hintergrund im Kapitel III eine Perspektive für eine zukunftsfähige Wirtschaftsordnung zu entwerfen und im Kapitel IV ganz konkrete Schritte für den Übergang zu dieser Ordnung vorzustellen.

An dieser Stelle möchte ich meine Wertschätzung für den großen US-amerikanischen Ökonomen und Ökologen Herman E. Daly zum Ausdruck bringen, der einer der herausragenden Vertreter der Ökologischen Ökonomik und Träger des alternativen Nobelpreises von 1996 ist. Seinem unbestechlichen ökonomischen Urteil verdanke ich wesentliche Impulse für meine Arbeit.

Gerd Zeitler
München, im September 2006









Einleitung






Seit Jahrtausenden betreiben die Menschen Handel miteinander. Bewegt von der Hoffnung auf Reichtum und Wohlstand haben sie ihre wirtschaftlichen Beziehungen immer vielfältiger und weiträumiger gestaltet. Aber die Hoffnung auf Handelsgewinne hat sich nur selten für alle Beteiligten erfüllt – die Gefahr, übervorteilt, ausgebeutet oder gar erobert zu werden, war und ist allgegenwärtig. Die Völkergemeinschaft hat erst spät erkannt, dass friedliche und fruchtbare Beziehungen nur auf der Grundlage allseits anerkannter Verhaltensnormen gedeihen können. So bedurfte es der schlimmen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, um eine erste Einmütigkeit zu erzeugen, aus der dann immerhin so bedeutende Erklärungen wie die Satzung des Völkerbundes und – nach dem Zweiten Weltkrieg – die Charta der Vereinten Nationen hervorgegangen sind.

Seither haben sich die internationalen Beziehungen unerwartet vielschichtig weiterentwickelt, getragen von überzeugenden staatlichen wie auch von engagierten zivilen Bekenntnissen. Der in den vergangenen 60 Jahren entstandene Grundkonsens für ein gedeihliches Zusammenwachsen der Welt äußert sich am augenscheinlichsten in der hohen Wertschätzung, die den humanitär tätigen Organisationen der Vereinten Nationen und auch dem Internationalen Gerichtshofs entgegengebracht wird.

Aber damit ist die Gefahr ausbeuterischer Beziehungen noch nicht aus der Welt. Das beweisen die wenig erfreulichen Auseinandersetzungen in den für Wirtschaft zuständigen Institutionen insbesondere in der in Genf ansässigen Welthandelsorganisation (WTO), die eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist und sich als Gralshüter einer neuartigen Freihandelsdoktrin versteht. Nach eigenem Verständnis ist sie angetreten, den Traum vom Wohlstand für alle Menschen nun ein für alle Mal zu verwirklichen. Allerdings ist sie in der Praxis weit davon entfernt, dieses Versprechen einzulösen. Hinter den hektischen Bestrebungen, den Freihandel weltweit durchzusetzen, werden eigennützige finanzwirtschaftliche und industrielle Interessen sichtbar, die in immer größeren Widerspruch zu den sozialen und ökologischen Verpflichtungen der Mitgliedsländer geraten. Die Verhandlungsführer in der WTO sehen sich deshalb zunehmend zwischen privatwirtschaftlichen und öffentlichen Interessen eingeklemmt.

Gleichzeitig verfestigt sich unter kritischen Beobachtern der Eindruck, dass sich der Konflikt in der WTO niemals zum allseitigen Vorteil wird lösen lassen. Alles deutet darauf hin, dass es unter dem machtvollen Druck privatwirtschaftlicher Interessen am Ende nur Verlierer geben wird. Immer eindringlicher wird gefragt, inwieweit die neue Massenarbeitslosigkeit und Armut in den alten Industrieländern und der Stillstand in den Entwicklungsländern, aber auch der globale Klimawandel, Folgen des Freihandels und des damit einhergehenden ungehemmten Zugriffs globaler Akteure auf das natürliche Kapital der Menschheit sind. Darum ist es nicht verwunderlich, dass die Arbeit der WTO und die Wirtschaftspolitiken ihrer Mitgliedsländer in einer zusehends aufgeklärten Öffentlichkeit auf immer größere Vorbehalte stoßen.

Die Aufgeklärtheit der globalen Zivilgesellschaft bewegt sich allerdings noch weit unterhalb der kritischen Masse, die notwendig wäre, um die in der allgemeinen Bevölkerung verbreitete Gleichgültigkeit und gespaltene Einschätzung gegenüber der Freihandelsdoktrin zu überwinden. Die Fortschritte sind gering, weil der Protest nur von wenigen privaten Initiativen und Organisationen getragen wird und über das Stadium von Wut und Empörung nicht hinauskommt. So wichtig diese erste Protestwelle auch ist, sie wird diffus und wirkungslos bleiben, wenn es nicht gelingt, die eigentlichen ökonomischen Ursachen und ihre Überwindung zum Thema der kritischen Auseinandersetzung zu machen und zugleich breitere öffentliche Resonanz zu erzeugen. Solange aus Wut und Empörung nicht schlagende Argumente erwachsen, wird die gleichgültige Mehrheit weiterhin die Funktion eines »demokratischen« Steigbügelhalters für den von eigennützigen Interessen getriebenen Freihandel erfüllen.

Dass die Aufklärung der Öffentlichkeit so schleppend vorankommt, ja systematisch untergraben wird, ist vor allem der Indoktrination zuzuschreiben, die finanzwirtschaftliche und industrielle Interessenverbände betreiben. Sie bedienen sich dabei einer sehr wirkungsvollen Taktik der gleichzeitigen verbalen Beschönigung und Verteuflung, in deren Mittelpunkt so gegensätzliche Schlagworte wie »Liberalisierung« und »Protektionismus« stehen. Mit dem Euphemismus »Liberalisierung« wird äußerst geschickt auf die bürgerlichen Freiheiten angespielt, die dem Begriff eine unwiderstehlich positive Ausstrahlung verleihen und das politische Klima schaffen, um wirtschaftliche Normen im Namen der Freiheit außer Kraft zu setzen und den globalen Akteuren eine gesetzesfreie Sphäre zuzubilligen. Der Begriff »Protektionismus« wird passgenau als Gegenstück eingesetzt, um sinnvolle Schutzmaßnahmen im Außenhandel wie etwa feste Wechselkurse, Kapitalverkehrskontrollen, Zölle und Handelskontingente zu diffamieren und negative Vorstellungen von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abschottung zu wecken. Das Zusammenwirken beider Schlagworte ist wesentlich dafür verantwortlich, dass sich eine Auffassung mehrheitlich behaupten kann, die der absoluten Freiheit der wirtschaftlichen Akteure, speziell ihrem Agieren außerhalb nationalstaatlicher Normen und Gesetze, den Rang eines universellen Grundrechts einräumt und wirtschaftspolitische Regelungen als hinderlich und überflüssig einstuft.

Keine Frage, dass dem weltweiten Austausch und Handel, aber auch der sonstigen globalen Zusammenarbeit mit den Parolen von »Liberalisierung« und »Protektionismus« ein schlechter Dienst erwiesen wird. Zusätzlich verstärkt wird die indoktrinierende Wirkung noch durch eine zweifelhafte Anleihe beim angelsächsischen Wirtschaftsliberalismus des achtzehnten Jahrhunderts. Der historische Rückbezug gipfelt in der vermessenen Auslegung, die Menschheit sei nun endlich in ein neues globales Zeitalter eingetreten, in dem die beschwerliche Entwicklung und Durchsetzung weltweit gültiger Normen durch die normative Kraft des Freihandels auf offenen globalen Märkten abgelöst werde.

Im Zuge der neuartigen Entwicklung taucht Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erstmals der Begriff Globalisierung auf. Zunächst noch allgemein für alle Prozesse internationaler Verflechtungen verwendet, schrumpft die Bedeutung des Begriffs in der Öffentlichkeit allerdings aufgrund des zunehmenden Welthandels und seiner Auswirkungen schnell auf seine wirtschaftliche Komponente zusammen. Als Mitte der neunziger Jahre die kritische Auseinandersetzung mit den liberalistischen Grundsätzen der Entwicklung einsetzt, wird von den Kritikern schließlich der Begriff »neoliberale Globalisierung« geprägt.

Welche Kräfte für die in der Geschichte beispiellose globale Dimension wirtschaftlicher »Liberalisierung« bestimmend waren und noch immer sind, erschließt sich aus den Ereignissen seit dem Zweiten Weltkrieg.

(...)









Eine Auswahl von Scheinargumenten






Der weitverbreitete Glaube an das Gute im Neoliberalismus kommt nicht von Ungefähr: Er ist vorwiegend das Ergebnis unkritischer Berichterstattung in den Medien, die das Expansions- und Gewinnstreben global agierender Unternehmen und Investoren zur nationalen Schicksalsfrage umdeuten und damit den Weg für sinkende unternehmerische Standortkosten und steigende unternehmerische Freiheitsgrade ebnen. Eine kritische Replik auf häufig gehörte Argumente kann den Blick dafür schärfen, wie weit neoliberales Gedankengut bereits ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen ist:






(1) Niemand kann die Globalisierung aufhalten, deshalb müssen wir uns dieser Entwicklung stellen!

Mit dieser Behauptung wird die Grundlage für die neoliberale Indoktrination geschaffen. Es wird unterstellt, die neoliberale Globalisierung sei eine historisch zwingende, quasi Naturgesetzen folgende Entwicklung, und es sei deshalb unmöglich, sie national zu steuern oder gar aufzuhalten. Eigenständige Wirtschaftspolitik sei unwirksam, ja überflüssig, weil »liberalisierte« globale Märkte sich selbständig regulierten und stabilisierten und für Wohlstand sorgten, solange sie nur von politischen Eingriffen verschont blieben.

Entgegen aller historischen Erfahrung wird damit in Abrede gestellt, dass eine freie Marktwirtschaft einheitlicher sozialer und ökologischer Rahmenbedingungen und Regeln bedarf und sie deshalb nur unter einer verbindlichen Wirtschaftsordnung innerhalb eines autonomen Wirtschaftsraumes zu verwirklichen ist. Nur unter diesen Bedingungen können sich Preise bilden, die den Akteuren bezüglich ihres eigenen wie auch des volkswirtschaftlichen Nutzens die richtigen Signale für ihre Transaktionen vermitteln. Nur so kann sich ein konstruktiver Wettbewerb entwickeln, der den Akteuren immer wieder neue Chancen einräumt, ohne sie endgültig vom Wirtschaftsgeschehen auszuschließen. Und nur unter diesen Bedingungen können die Märkte als frei bezeichnet werden, als frei für ihre eigentliche Aufgabe, die wirtschaftlichen Ressourcen ohne zentrale Eingriffe einzig über den Preis optimal zuzuordnen, und als frei auch in dem Sinne, dass von ihnen nicht erwartet wird, die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und Regeln zu ersetzen und selbsttätig soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit herzustellen.






(2) Die Probleme der Globalisierung lassen sich nur auf globaler Ebene lösen. In der WTO müssen Mindeststandards für Löhne, Arbeitsbedingungen, Sozialleistungen und Umweltschutz vereinbart werden, um einheitliche Wettbewerbsbedingungen herzustellen!

Mit dieser Behauptung werden unterschiedliche Probleme in einen Topf geworfen: Zweifellos ist die Menschheit gefordert, sich auf globaler Ebene auf allgemeine Menschenrechte, soziale Mindeststandards und Umweltschutz zu verständigen. Es ist jedoch abwegig, von supranationalen Bekenntnissen praktisch durchsetzbare, einheitliche Wettbewerbsbedingungen zu erwarten. Zum einen ist es angesichts der kulturellen und wirtschaftlichen Vielfalt in der Weit weder wünschenswert noch machbar, zentrale Vorgaben insbesondere für Produktivität, Löhne und Preise zu erlassen – auch deshalb, weil die drei Größen sich stets in einem binnenwirtschaftlichen Gleichgewicht befinden müssen, das durch supranationale Standards aufgehoben würde. Zum anderen besteht der innere Widerspruch der Forderung darin, dass Unternehmen und Nationalstaaten auf offenen globalen Märkten gezwungen sind, ihre Wettbewerbsvorteile auch durch gezieltes Unterlaufen sozialer und ökologischer Standards herbeizuführen. Es wäre blauäugig, speziell von aufstrebenden Ländern zu erwarten, sich in der WTO ernsthaft für verbindliche Mindeststandards stark zu machen.

Ein konstruktiver grenzüberschreitender Wettbewerb lässt sich nur herstellen, indem Nationalstaaten und Wirtschaftsunionen wie die EU ihren Außenhandel in eigener Verantwortung von absoluten Preisvorteilen in US-Dollar und Euro auf komparative, relative Vorteile auf der Grundlage bilateral vereinbarter Wechselkurse umstellen. Erst dann können auch völlig unterschiedlich entwickelte Länder im gegenseitigen Handel mit Gütern und Dienstleistungen nachhaltige Wohlstandsgewinne erzielen.






(3) Die Auslagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer sichert die verbleibenden heimischen Arbeitsplätze!

Richtig ist, dass sich Unternehmen im Wettbewerb auf offenen globalen Märkten zur Auslagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer gezwungen sehen können. Falsch ist, dass Auslagerungen die verbleibenden Arbeitsplätze sichern; sie verzögern deren Abbau lediglich. Auslagerungen dürfen also nicht als Einmalaktionen zur endgültigen Sanierung von Unternehmen und Branchen oder zur Einleitung eines wirtschaftlichen Aufschwungs missverstanden werden; sie setzen sich unter dem unaufhörlich steigenden globalen Kostendruck vielmehr endlos fort.

Und schlimmer noch: Mit fortschreitender industrieller Entwicklung von Schwellen- und Entwicklungsländern müssen zunehmend auch Arbeitsplätze ausgelagert werden, die hohe und höchste Anforderungen an Ausbildung und Qualifikation stellen. Für die Zukunft kann unter neoliberalen Verhältnissen kein einziger Arbeitsplatz in den entwickelten Industrieländern mehr als gesichert gelten. Der Exodus lässt sich unter neoliberalen Bedingungen nicht aufhalten, sondern lediglich durch beschleunigtes Absenken von Sozial- und Umweltstandards auf das niedrige Weltniveau verzögern – mit all den daraus entstehenden verheerenden Folgen.






(4) Die deutschen Unternehmen sind – wie die Exporterfolge zeigen – international sehr wettbewerbsfähig. Die deutschen Arbeitnehmer sind es dagegen nicht! Oder auch: Wir sind international nicht wettbewerbsfähig, weil bei uns die Arbeit zu teuer ist!

Dies ist eine ursprünglich unternehmenstaktisch motivierte Unterstellung, die sich auf absolute Lohnvergleiche in US-Dollar zwischen unterschiedlich produktiven Volkswirtschaften stützt, um mit diesem Kunstgriff Lohnsenkungen das Wort zu reden. Die Aussage findet breite Zustimmung bei Unternehmern und Investoren, die sich davon höhere Kapitalrenditen versprechen. Inhaltlich folgt die Aussage der verhängnisvollen Doktrin, die es Unternehmen gestattet, und sie letzten Endes sogar zwingt, im globalen Wettbewerb hochentwickeltes Produktionskapital aus Industrieländern mit »billiger« Arbeit aus Entwicklungsländern zu kombinieren.

Mit diesen Kombinationen werden zwei ökonomische Todsünden begangen: Erstens wird in Hochlohnländern die gleichmäßige Entwicklung von Produktivität und Löhnen unterbunden, so dass Kaufkraftverluste entstehen, in deren Folge regionale Wirtschaftskreisläufe zusammenbrechen. Zweitens werden bei der Auslagerung von Produktionskapital die betriebliche Mitbestimmung und die grundgesetzlich verankerte Sozialpflichtigkeit des Eigentums verletzt. Das heißt konkret: die an der Kapitalerschaffung beteiligten Beschäftigten werden kalt enteignet.

Wer sich dafür ausspricht, die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und ihren Beschäftigten künstlich zu trennen, riskiert nicht nur wirtschaftliche Verheerungen im eigenen Land, er setzt sich auch dem Verdacht aus, eigennützig einen Keil zwischen die gesellschaftlichen Gruppen treiben zu wollen.






(5) Eine Verlängerung der Jahresarbeitszeit ohne Lohnausgleich macht die Arbeitsplätze wettbewerbsfähiger und erzeugt mehr Beschäftigung!

Unbestritten ist, dass eine Senkung der Stundenlohnkosten unmittelbar die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen erhöht und dass sich unter neoliberalen Verhältnissen der wirtschaftliche Druck, Produktionen und Arbeitsplätze in Billiglohnländer zu verlegen, dadurch verringert. Der Effekt ist freilich unter dem ständig ansteigenden Kostendruck des globalen Wettbewerbs jeweils nur von kurzer Dauer. Die Forderungen nach längeren Arbeitszeiten oder alternativ nach Lohnsenkungen müssen also systembedingt laufend neu erhoben werden, ohne dass dadurch die bestehenden Arbeitsplätze gesichert werden oder gar ein höherer Beschäftigungsstand erzielt wird.

Die Behauptung beruft sich zudem indirekt auf einen angebots-ökonomischen Mechanismus, für den es keine Grundlage gibt: Es wird eine latent vorhandene, unbefriedigte Gesamtnachfrage unterstellt, die mittels verlängerter Arbeitszeit und entsprechend höherer Auslastung der Produktionskapazität befriedigt werden könne. Dieser Effekt kann jedoch bei gesättigten Binnenmärkten, zunehmend gesättigten Exportmärkten und weltweiten industriellen Überkapazitäten nicht erwartet werden. Durch Arbeitszeitverlängerung tritt auf Binnenmärkten eher das Gegenteil ein: Wenn die eingespielte Balance zwischen Arbeitszeit und Freizeit durch längere Arbeitszeiten gestört wird, ist sogar mit weniger statt mit mehr Nachfrage zu rechnen – und mit entsprechend weniger Beschäftigung. Allenfalls wird infolge einer leichten Verbesserung der globalen Wettbewerbsfähigkeit das Exportvolumen kurzzeitig ansteigen, was sich aber auf den Arbeitsmarkt bestenfalls neutral auswirkt.






(6) Es gibt keinen Grund, China daran zu hindern, seine preisgünstigen Produkte bei uns anzubieten und im Handel mit uns seinen Wohlstand auf westliches Niveau anzuheben!

Diese Forderung suggeriert, der Wettbewerb auf offenen globalen Märkten sorge weltweit für steigenden Wohlstand und für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands, und wir seien als Bürger eines reichen Industrielandes moralisch verpflichtet, unsere Grenzen für diesen Wettbewerb zum Wohle der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern offen zu halten. Die Forderung ist ein Versuch, die neoliberale Globalisierung auf ein moralisches Fundament zu stellen.

Zunächst ist festzuhalten, dass der globale Wettbewerb an seinen inneren Widersprüchen scheitert: Der Zwang zum absoluten Preisvorteil, der für alle Länder und Akteure unabhängig von ihrer tatsächlichen Produktivität besteht, begünstigt diejenigen Anbieter, die sich am skrupellosesten aller denkbaren Methoden des Dumpings bedienen. Strategisch aggressiv vorgehenden Schwellenländern wie China gelingt es, die entwickelten Industrieländer gezielt von ausgesuchten Märkten zu verdrängen, um schließlich eine vorübergehende Konvergenz der sozialen und ökologischen Standards auf mittlerem Niveau zu erzwingen. Während in diesem Spiel zunächst die Industrieländer von den Schwellenländern nach unten gezogen werden, verharren die meisten Entwicklungsländer auf tiefem Niveau oder sacken noch weiter ab. Wenn es einigen von ihnen gelingt, sich zum Schwellenland zu entwickeln, werden sie ihrerseits eine neue Konvergenz erzwingen – wiederum auf ein mittleres Niveau, das aber logischerweise tiefer liegt als das vorherige. Die neoliberalen Gewinner von heute, allen voran China, entwickeln sich somit durch ihre zunehmende Abhängigkeit vom anarchischen globalen Wettbewerb zu den Verlierern von morgen.

Für eine weltweit nach oben strebende Konvergenz der unterschiedlichen Wohlstandsniveaus bietet sich nur eine Lösung an: die Rückkehr zu wirtschaftspolitisch autonom geregeltem Außenhandel auf der Grundlage qualitativen Wachstums, wohlkalkulierter Wechselkurse und komparativer statt absoluter Wettbewerbsvorteile – ergänzt durch uneigennützige Entwicklungshilfe.






(7) Unsere einzige Chance als Hochlohnland im Wettbewerb mit Niedriglohnländern sind Innovationen und Wachstum im Export!

Produkt- und Prozessinnovationen sind zwar grundsätzlich zu begrüßen, soweit sie sozial- und umweltverträglich sind, aber hier sind ja Innovationen und Wirtschaftswachstum gemeint, die ohne Rücksicht auf Gesellschaft und Umwelt einzig darauf gerichtet sind, Konkurrenten im globalen Wettbewerb zu verdrängen, globale Märkte zu erobern und das Exportvolumen zu erhöhen.

Unsinnig ist die Forderung insbesondere deshalb, weil Innovationsfähigkeit kein Privileg von Hochlohnländern mehr ist. Schwellenländer wie China und Indien sind – bei niedrigstem Lohnniveau – auf vielen Gebieten bereits innovativer als die alten Industrieländer. Gleichwohl lässt sich die globale Wettbewerbsfähigkeit mit Innovationen immer wieder auf geraume Zeit sichern; aber sie geht stets auch mit steigender Kapitalkonzentration und kapitalintensiverer Produktion einher, beides Entwicklungen, die im neoliberalen Umfeld zu Lasten von Arbeitsplätzen und Umwelt gehen. Wenn es Hochlohnländern mittels Innovationen tatsächlich gelingt, ihr Exportvolumen zu erhöhen, liefern sie sich anschließend umso stärker dem globalen Kosten- und Innovationsdruck und dem Zwang zur Auslagerung von Wertschöpfung und Arbeitsplätzen aus. Das Exportwachstum wird also in Form verlagerter Wertschöpfung gleichsam mitexportiert, bevor es sich im Inland positiv auswirken kann. Hochlohnländer geraten daher mit weltmarktgängigen Innovationen unweigerlich in einen systembedingten Teufelskreis.






(8) Wir müssen im globalen Wettbewerb um so viel besser sein, wie wir teurer sind!

Dieser Appell fordert dazu auf, die eigenen Äpfel mit den Birnen anderer Länder auf der Basis von US-Dollar-Preisen zu vergleichen, ohne die völlig beliebigen Wechselkurse zwischen Landeswährungen und US-Dollar und ohne Verzerrungen durch sonstige Dumpingmethoden in den Vergleich einzubeziehen.

Dass wir in Deutschland besser werden sollten, um unsere höheren Preise zu rechtfertigen, ist zunächst schon deswegen unsinnig, weil wir mit hoher Produktivität hohe Qualität produzieren und deutsche Produkte – die negativen externen Effekte unserer Produktionsweise einmal ausgeklammert – im Weltmaßstab zur Spitzengruppe zählen. Dass wir zu teuer seien, ist eine ökonomisch unsinnige Behauptung, weil unsere hohe Produktivität hohe Löhne, hohe Kaufkraft und hohen Lebensstandard einschließt und weil wir außerdem in unserer Kultur relativ hohe soziale, ökologische und sicherheitsrelevante Standards entwickelt haben, die es nicht abzubauen, sondern zu verteidigen und weiterzuentwickeln gilt.

Wenn wir weiterhin deutsche Äpfel mit chinesischen Birnen vergleichen wollten – was derzeit ein beliebtes Spielchen neoliberaler Protagonisten ist – wären wir im Preiswettbewerb mit China gezwungen, zunächst die von China durch Abwertung seiner Währung aufgebaute Wechselkurshürde mit preislichen Gegenmaßnahmen zu kompensieren, um anschließend noch Chinas Kostenstruktur nachzuvollziehen. Das heißt konkret, wir müssten chinesische Löhne, Sozialleistungen und Umweltstandards einführen und eine aggressive Exportpolitik ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt betreiben. In diesem Wettrennen würden wir unsere Kultur noch stärker verleugnen, als wir das ohnehin schon tun, und wir müssten jederzeit damit rechnen, dass China auf unser Preisdumping reagiert und die Spirale sinkender Standards seinerseits weiter beschleunigt.






(9) Nur mit einer Verbesserung unseres Bildungssystems werden wir unseren Rückstand gegenüber anderen Ländern langfristig aufholen können!

Diese Forderung geht am Kern volkswirtschaftlicher Erfordernisse vorbei. Sie ist Teil einer Kampagne, mit der versucht wird, unser Bildungssystem einseitig an den vorgeblichen Zwängen des Wettbewerbs auf globalen Märkten auszurichten. Dahinter verbirgt sich die unternehmerische Absicht, jederzeit auf ein übergroßes Angebot an neoliberal-wirtschaftskonform qualifizierten und einsetzbaren Arbeitskräften zugreifen zu können.

Die deutsche Wirklichkeit gibt Anlass zu ganz anderen Forderungen: Schon heute ist eine steigende Zahl von Berufseinsteigern gezwungen – soweit ihnen überhaupt der Einstieg gelingt – sich unter Wert zu verkaufen und Arbeitsverhältnisse einzugehen, die nicht ihren Neigungen entsprechen, für die sie nicht ausgebildet oder für die sie überqualifiziert sind. Dieser Trend ist Ausdruck der Tatsache, dass sich die neoliberale Wirtschaft von einem Gleichgewichtszustand des Arbeitsmarktes mit Vollbeschäftigung in doppelter Hinsicht entfernt: Einerseits geht die Arbeitsnachfrage mengenmäßig zurück und verwehrt immer mehr jungen Menschen einen sofortigen Berufseinstieg, andererseits wird das traditionell breite Spektrum an nachgefragten Qualifikationen infolge unkontrollierter und strukturauflösender internationaler Spezialisierung immer stärker eingeengt, so dass einer steigenden Zahl von Menschen die Berufsausübung ganz grundsätzlich verwehrt wird.

Dieser Entwicklung lässt sich mit einer wie auch immer gearteten Verbesserung unseres Bildungssystems nicht begegnen. Dazu bedarf es vielmehr einer besseren Wirtschaftspolitik, die ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung nachkommt, statt sich hinter vermeintlichen globalwirtschaftlichen Zwängen zu verschanzen.






(10) Die wirtschaftliche Produktivität ist heute so hoch, dass genug für alle Menschen da ist. Die Güter müssen nur gerechter verteilt werden!

Die wirtschaftliche Produktivität, die aus dem neoliberalen Wettbewerb hervorgeht, ist einseitig auf die Effizienz des Kapitaleinsatzes (auf die Kapitalrendite) zu Lasten der arbeitenden Menschen und der natürlichen Umwelt ausgerichtet. Diese Art von »Produktivität«, mit der Werte vernichtet statt geschaffen werden, ist eine schlechte Grundlage für Verteilungsgerechtigkeit. Wer die zunehmende Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung dennoch mit Umverteilung bekämpfen will, erweist der Gesellschaft und der Natur einen Bärendienst, indem er dem neoliberalen System einen Persilschein ausstellt und zu seiner Stabilisierung beiträgt, ohne sich dessen möglicherweise bewusst zu sein – und übrigens auch ohne die geringste Chance, seine Forderung bei systembedingt zunehmender Ungleichverteilung und rückläufigen öffentlichen Einnahmen jemals verwirklicht zu sehen. Dazu kommt, dass eine dauerhafte Alimentierung bei hoher Arbeitslosigkeit nicht nur ökonomisch fragwürdig ist, sondern die betroffenen Menschen auch sozial ausgrenzt und ihre Würde verletzt. Echte Verteilungsgerechtigkeit bedarf zwar der Ergänzung durch sekundäre Umverteilung, die in der Forderung ja angesprochen wird, muss aber vorrangig durch primäre Einkommensverteilung aus Arbeit hergestellt werden, also durch einen hohen Beschäftigungsstand, eben durch Vollbeschäftigung.






(11) Die Politik ist die falsche Adresse, wenn es darum geht, Arbeitsplätze zu schaffen – da ist allein die Wirtschaft gefordert!

Dies ist eine für Vertreter der neoliberalen Wirtschaftspolitik typische Bankrotterklärung, mit der sie bewusst oder unbewusst dazu beitragen, die souveränen und demokratisch legitimierten wirtschaftspolitischen Vollmachten des Staates zu untergraben und – soweit sie ein politisches Amt bekleiden – sich der persönlichen Verantwortung für die Gestaltung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und Regeln zu entledigen. Mit ihrer Einschätzung ebnen sie außerdem den Weg für die Übertragung nationaler wirtschaftspolitischer Vollmachten an die EU und die WTO und leisten damit der fremdgesteuerten Deregulierung nationaler Märkte und der »Liberalisierung« unternehmerischen Handelns Vorschub.

Niemand kann bei fehlender wirtschaftspolitischer Steuerung von »der Wirtschaft« oder irgendeiner anderen gesellschaftlichen Gruppe erwarten, sich zum Sachwalter des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder speziell des Arbeitsmarktes aufzuschwingen. Die Schaffung und der Erhalt von Arbeitsplätzen, wie auch alle anderen wirtschaftspolitischen Aufgaben, sind nur mit einer demokratisch legitimierten Wirtschaftspolitik zu bewältigen.






(12) Die Unternehmen erfüllen ihren sozialen Auftrag bereits mit der Bereitstellung von Arbeitsplätzen. Ihre Lohnnebenkosten sind eine unzumutbare Mehrbelastung und müssen abgebaut werden!

Zunächst ist festzuhalten, dass die Bereitstellung von Arbeitsplätzen kein Auftrag ist, der sich an eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe wie etwa die Industrievertreter richtet. Ein hoher Beschäftigungsstand ist vielmehr das Ergebnis einer auf wirtschaftliches Gleichgewicht zielenden politischen Steuerung. Dabei bleibt die konkrete Umsetzung des politischen Willens unter marktwirtschaftlich-demokratischen Verhältnissen der freien Entscheidung der einzelnen Wirtschaftssubjekte vorbehalten. Jedem Bürger ist es freigestellt, unternehmerisch tätig zu werden und Arbeitsplätze anzubieten oder es auch zu lassen. Wer sich allerdings für eine unternehmerische Tätigkeit entscheidet, gewinnt zwar eine rechtlich begrenzte Verfügungsgewalt über die Produktionsfaktoren – einschließlich des Faktors Arbeit –, ist aber zugleich auch verpflichtet, das erwirtschaftete Produktionskapital und die Kapitalrendite ortsgebunden zum Wohle seines Unternehmens und seiner Mitarbeiter und damit zugleich für das Gemeinwohl einzusetzen.

Die Forderung, die Lohnnebenkosten abzubauen, folgt der Logik des Kostendrucks im globalen Wettbewerb und zielt darauf ab, das Produktionskapital und seine Rendite zum Zwecke der globalen Wettbewerbsfähigkeit von sozialen und ökologischen Verpflichtungen und Kosten zu entbinden. Der hier angewendete Kunstgriff besteht darin, das Arbeitsentgelt künstlich in Lohn und Lohnnebenkosten aufzuteilen und mit dem Zusatz »Nebenkosten« den Eindruck zu erwecken, dieser Entgeltanteil stehe in keinem Zusammenhang mit wirtschaftlichen Aktivitäten und sei deshalb mit keinerlei Verpflichtungen verbunden.

Die qualitative Unterscheidung in Lohn und Lohnnebenkosten verschafft den Unternehmen allerdings nur eine vordergründige und fadenscheinige Freistellung von ihren sozialen Verpflichtungen. Denn nur beide Entgeltanteile zusammen erlauben den abhängig Beschäftigten eine dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand angemessene Lebensführung. Im übrigen geht die Aufteilung auf obrigkeitsstaatliches Denken zurück, das sich einst nicht vorstellen konnte, die Verantwortung für die Abführung von Sozialbeiträgen in die Hände der Beschäftigten zu legen. Es ist an der Zeit, das gesamte Arbeitsentgelt als das zu bezeichnen, was es ist: der Lohn der Arbeit – unabhängig davon, wer die aus dem Lohn zu finanzierenden Sozialbeiträge abführt.


Siehe auch:


Gerd Zeitler: Lexikon der sozialökologischen Marktwirtschaft