langelieder > Bücherliste > Atlas der Globalisierung, Ausgabe 2009




LE MONDE diplomatique (Hrsg.)
Atlas der Globalisierung


Sehen und verstehen, was die Welt bewegt






Erschienen im Oktober 2009


Le Monde diplomatique / taz Verlags- und Vertriebs GmbH, Berlin, 216 Seiten; ISBN 978-3-937683-24-9


Bestellmöglichkeit: www.monde-diplomatique.de/atlas




Frühere Ausgaben:


Atlas der Globalisierung 2003
Atlas der Globalisierung 2006
Atlas der Globalisierung spezial: Klima
Atlas der Globalisierung 2011: Das 20. Jahrhundert
Atlas der Globalisierung 2012: Die Welt von morgen


Inhaltsverzeichnis


Vorwort von Serge Halimi






1.

Neue Weltkunde




Einleitung von Joseph Stiglitz
Das US-Imperium bekommt Konkurrenz
Warum die Menschheit immer älter wird
Migration – viele Gründe, viele Grenzen
Arme Länder, gute Ernten, großer Hunger
Der vergeudete Rohstoff-Boom
Der Kampf um das Wasser
Fundamentalisten sind überall
Das seltsame Innenleben der Nato
Rüstung bietet jeden Tod
Terrain für bewaffnete Gruppen
Cyberterrorismus – eine Gefahr, die noch keine ist
Das Handy drängt ins Internet
Die Europäische Union auf dem Weg zur Großmacht
USA – eine Marke ist beschädigt
Lateinamerika entzieht sich den USA
China und Indien – zwei Riesen verändern die Welt







2.

Kapitalismus in der Krise




Einleitung von Bettina Gaus
Krisen und wer dafür bezahlt
Versagen ohne Reue: Die Ausreden der Marktradikalen
Steuerzahler als Bankenretter
Steueroasen trocknen nicht aus
Kleine Wagen mit großer Zukunft
Eine neue internationale Arbeitsteilung
Welthandelsrunde im Langzeitkoma
Staatsfonds, die neuen Geldgeber
Die Krise erreicht IWF und Weltbank
Geld-Wechsel in der Weltwirtschaft
Mehr Geld als Waren in der Welt
Der Neoliberalismus belohnt seine Fürsprecher







3.

Die Zukunft der Energie




Einleitung von Sven Giegold
Klimafaktor Mensch
Die Rettung ist finanzierbar
Kohle bleibt ein Dauerbrenner
Das billige Erdöl ist verbraucht
Der letzte Tropfen wird zu teuer
Europas Erdgas aus dem Osten
Machtkampf am Kaspischen Meer
Öl und Armut in der arabischen Welt
Afrikas Ölquellen locken alte Bekannte
Neue Märchen von der Atomkraft
Der grüne Boom trägt weit in die Zukunft
Europa kann sich selbst versorgen
Ergiebige Winde über dem Meer
Die Vision vom Wüstenstrom







4.

Viele Hauptstädte, viele Ansichten




Einleitung von Philippe Rekacewicz
Eine Welt mit vielen Zentren
Die USA spüren ihre Grenzen
Berlin, die neue Mitte Europas
Polen ist längst nicht mehr verloren
Das zaghafte Europa
Moskau blickt unsicher nach Osten
Die Arktis, letzte Grenze der Globalisierung
Stolz und Stärke in Teheran
Neu-Delhi übersieht seine Nachbarn
Peking hat die besten Karten
Japans unschuldige Gesichter
Geschwächte Macht am Nil
Vertane Chancen am Kap







5.

Kompliziertes Afrika




Einleitung von Prinz Kum’a Ndumbe III.
Ungewisse Zukunft nach dem großen Umbruch
Ein Wirtschaftswachstum, das den Armen nicht hilft
Soziale Proteste aus Notwehr
Auswandern – aber wohin?
Megastädte, Megaslums
Kontinent der Kinder
Machtkämpfe im ethnischen Gewand
Wettlauf der Religionen
Aufbau in zerstörten Ländern
UN-Einsatz in Afrika, eine gemischte Bilanz
Darfur, Chronologie einer Tragödie
Demokratische Anfänge im Kongo
Unstaaten am Horn von Afrika
Die neuen Führungsmächte
Im Blickfeld des Pentagon
Asien im Afrikafieber
Alte Schulden, neues Geld
Der lange Weg zur Demokratie







6.

Ungelöste Konflikte




Einleitung von Volker Perthes
Schrecken ohne Gleichgewicht
Millionen Flüchtlinge erhalten keine Hilfe
Kosovo und Bosnien, zwei Versuche der Staatsgründung
Wie die Eliten des Maghreb den Terrorismus nutzen
In Westsahara hört die junge Generation nicht mehr auf die alten Autoritäten
Aus dem Gazakrieg lernen
Gefährliche Ruhe im Libanon
Kurdistan, der Traum vom eigenen Staat
Unversöhnliche Gegner im Südkaukasus
Tschetschenien bleibt Republik von Moskaus Gnaden
Syriens Schlüsselrolle im Nahen Osten
Der Irak ist längst noch kein stabiler Staat
In Afghanistan kann die Nato nicht gewinnen
Indien und Pakistan, misstrauische Nachbarn mit Bombe
Sri Lanka: Kein Frieden nach dem Sieg
Die Volksrepublik China ist nicht für alle Völker da
Nordkorea, Volksrepublik unter Verschluss
Bruchlinien in der Andenregion







Kartenverzeichnis, Autorenverzeichnis, Quellen der Karten


Leseproben


Vorwort von Serge Halimi



Zeichen lesen, Zeichen setzen






Zu Beginn des Jahres 2008 hätte kaum jemand darauf gewettet, dass ein junger schwarzer Senator aus Illinois im November zum Präsidenten der USA gewählt würde. Ebenso wenig hätte man vermutet, dass noch ein ganz anderes Ereignis dem Jahr den entscheidenden Stempel aufprägen würde. 2008 sollte für Barack Obama, sein Land und den gesamten Planeten das Jahr werden, in dem das Weltfinanzsystem erschüttert wurde. Mit ihrer zerstörerischen Kraft hält die Krise seitdem unserem wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Modell den Spiegel vor, einem Modell, das der Atlas der Globalisierung von Le Monde diplomatique in all seinen Facetten und Auswirkungen darstellt.






Anfang 2008 schienen die sprunghaft ansteigenden Energiepreise die Umwälzungen in der Welt zu beschleunigen. Vom Preisanstieg profitierten ausgerechnet strategische Gegner der USA wie Russland, Venezuela und Iran. Ende 2008 war der Ölpreis, der im Juli 147,50 Dollar pro Barrel erreicht hatte, wieder unter 40 Dollar und damit auf den Stand von 2003 gefallen. Die Finanzkrise, die an der Wallstreet in New York begonnen hatte, hat in den westlichen Ländern einen Einbruch im Kreditgeschäft, den Rückgang der globalen Nachfrage und den Preissturz bei den Energiepreisen ausgelöst. Die Angst vor Inflation und Verschuldung ging zumindest teilweise in der Angst vor Deflation und Massenarbeitslosigkeit unter. Für kurze Zeit drohte die grüne Energie, die bei einem Ölpreis von 150 Dollar pro Barrel rentabel wurde, zur nächsten Spekulationsblase zu werden – so wie die Tulpenkrise im 17.Jahrhundert, die New-Economy-Blase im Jahr 2000 und eben der ImmobilienHype in den USA bis 2007.






Dabei hätte 2008 das Jahr der »Entkoppelung« werden sollen. Der Niedergang des Imperium Americanum würde, so hieß es, dem wieder erstarkenden Russland und den neuen Giganten Brasilien, Indien und China den Weg frei machen. Ein paar Monate später war auch diese Prognose infrage gestellt. Obwohl die USA das Epizentrum des Börsencrashs bildeten, sank der Dow Jones »nur« um ein Drittel und damit weniger als die Kurse an anderen Weltfinanzplätzen. Der Dollar hat im Verhältnis zu einem repräsentativen Korb großer Währungen sogar um 10 Prozent zugelegt.






Auch auf die ideologische Entkoppelung warten wir bis heute. Von ein paar frommen Ratschlägen und Versprechen der Besserung abgesehen, haben die folgenden G-20-Gipfel in Washington und London nur bekräftigt, dass die Prinzipien des Marktradikalismus nach wie vor das allgemeine Credo sind. Diesen Standpunkt vertraten dort auch angeblich linke Regierungen wie die Brasiliens, Argentiniens und Südafrikas. Das hindert freilich niemanden, schon gar nicht die USA, Vereinbarungen zu brechen, sobald die jeweiligen nationalen Interessen dies erforderlich machen. Es ist ein bisschen so, als würde jemand, um gegen seinen erlahmenden Glauben anzukommen, sich mechanisch immer wieder die alten Gebete vorsagen.






Der Irrglaube breitet sich trotzdem immer weiter aus. Die Schuldenkrise – ausgelöst durch die berüchtigten Subprime-Kredite, die rückzahlungsunfähige Verbraucher in die Klemme brachten – ließ die Nachfrage der Zahlungskräftigen einbrechen. Und was soll jetzt Abhilfe schaffen? Ausgerechnet die Anhäufung gigantischer Schulden! Die neoliberalen Fundamentalisten entdecken auf einmal John Maynard Keynes wieder, und ihre ideologische Verwirrung geht so weit, dass Newsweek schon Karl Marx feiert. Die amerikanische Wochenzeitschrift stellte einem Hintergrundartikel über die Krise einen Satz aus dem Manifest der Kommunistischen Partei als Motto voran: »Die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.«






Dieser Text ist von 1848. Er wirkt insgesamt weniger veraltet als die Analysen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Im November 2008 sagte der IWF für 2009 ein weltweites Wachstum von 2,2 Prozent voraus. Zwei Monate später wurde die Voraussage korrigiert: Es sei doch nur mit 0,5 Prozent zu rechnen. Im April 2009 waren es 1,3 Prozent – aber im Minus. Und im Juni lag die Prognose bei minus 1,4 Prozent. Mitte August hieß es dann, das Ärgste sei überstanden, in Deutschland und Frankreich wachse die Wirtschaft sogar wieder. Somit erweisen sich die laut Selbstauskunft »besten Ökonomen Welt«, die unverbesserlichen Architekten der verfehlten neoliberalen Politik, obendrein als unfähig, vorherzusagen, was noch im Jahr ihres Orakels geschehen wird.






»In vierzig Jahren Studium der Wirtschaft der Großmächte habe ich nie erlebt, dass sich die Zahlen so oft und in solchen Dimensionen veränderten«, erklärte der Historiker Paul Kennedy. Paradoxerweise ergeben die vorhersagen auf lange Sicht ein konsistenteres Bild. Denn wenn man den Zeitraum der letzten dreihundert oder fünfhundert Jahre anschaut, so Kennedy weiter, »dann nähert sich die amerikanische Abhängigkeit von ausländischen Investoren immer mehr dem Niveau der Auslandsverschuldung, die wir Historiker gewöhnlich mit Philipp II. von Spanien und Ludwig XIV. in Verbindung bringen«.






Zeitlich für uns viel näher ist die Tatsache, dass jenseits schwankender Energiepreise der heutige Zustand der Umwelt die Warnungen von vor dreißig Jahren bestätigt: Die Meeresspiegel steigen, der Strom der Klimaflüchtling schwillt an und der Regenwald am Amazonas schrumpft jedes Jahr um 10 000 Quadratkilometer. Das sind so sichere Vorhersagen, dass sogar der IWF sie wagen könnte, ohne sich zu blamieren!






Mit ebensolcher Verlässlichkeit kann man schon vorhersagen, dass etliche im neoliberalen Dogma festgeschriebene Methoden bald wieder auf der Oberfläche auftauchen werden. Noch sind die Stimmen leise: Gegen die Rückverlagerung von Produktionsstätten aus dem Ausland, wo doch deren Verlagerung in Billigländer die Löhne in eine Abwärtsspirale gedrückt hat; gegen die Verstaatlichung der Banken, die schließlich sicherstellen soll, dass Milliarden öffentlicher Gelder eher in die Kreditvergabe fließen statt als Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet zu werden; gegen die zusätzliche Versteuerung hoher Einkommen, wo selbst Henri Guaino, ein Berater des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, »einen breiten Aufruhr der unteren und mittleren Schichten gegen die Einkommensunterschiede« erkennt, »die ein seit dem 19.Jahrhundert nicht mehr dagewesenes Maß erreicht haben«; und schließlich gegen die Inflation, mit deren Hilfe die Staatsschulden abgeschmolzen werden könnten.






Von nun an lautet die Frage nicht mehr nur, ob das System in der Lage ist, sich selbst zu korrigieren, sondern wie lange es sich noch halten kann, zu welchem Preis und auf wessen Kosten. Die Antwort wird eine zugleich politische und soziale sein: Da die Linke keine Alternativen zu bieten hat, steht außer Zweifel, dass die enormen Defizite, die seit Ende 2008 aufgehäuft worden sind, um die Banken zu retten und die Finanzindustrie wieder in Gang zu bringen, den Vorwand liefern für starke Einschnitte bei den Sozialausgaben.






Die Bruchlandung des Neoliberalismus könnte somit die nächste Runde an neoliberalen Rezepten einläuten. Die Europawahlen vom Juni 2009 haben bereits gezeigt, dass die Rechte aus dem erwiesenen Scheitern ihrer Politik noch Kapital schlägt, indem sie mit dem eingetretenen Notfall argumentiert, um noch härtere Einschnitte durchzusetzen.






Die größte Wirtschaftskrise seit 1929 wird vieles verändern, aber sie erklärt längst nicht alles. Die Kriege im Nahen Osten und in Afghanistan, die Zerreißprobe im iranischen Regime, die Konflikte im Kaukasus – sie haben mit der Finanzkrise kaum etwas zu tun. Aber sie haben eine enorme destabilisierende Wirkung in einer Welt, die noch nicht weiß, ob die sich abzeichnenden Risse ins schwarze Loch des Chaos oder auf die Baustelle einer neuen Ordnung führen werden.






Dieser Atlas ist kühn genug, die Frage zu stellen, und klug genug, um zu wissen, dass keine Karte die (ganze) Antwort enthält.









Serge Halimi ist Direktor von Le Monde diplomatique, Paris.