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Christiane Grefe / Mathias Greffrath / Harald Schumann
attac

Was wollen die Globalisierungskritiker?


Berlin 2002 (Rowohlt); 222 Seiten; ISBN 3-87134-451-6






attac (association pour une taxation des transactions financières pour l'aide aux citoyens, dt. „Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger“) ist ein globalisierungskritisches Netzwerk, welches am 3. Juni 1998 in Frankreich gegründet wurde. Die Idee dazu kam durch einen Leitartikel von Ignacio Ramonet, der im Dezember 1997 in der Zeitung Le Monde diplomatique veröffentlicht wurde. Attac agiert in 50 Ländern, hauptsächlich jedoch in Europa, und hat nach eigenen Auskünften 90.000 Mitglieder.

In Deutschland beschließen am 22. Januar 2000 Mitglieder von rund 50 NGOs in Frankfurt/Main, ein „Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte“ zu gründen. Dieses soll eng mit der im Jahr 1998 gegründeten französischen Organisation Attac zusammenarbeiten. Beim zweiten „Ratschlag“ am 15. April 2000 in Hannover nimmt Attac Deutschland die konkrete Arbeit auf. Hier versteht sich das aus Mitgliedsorganisationen und Einzelmitgliedern (zurzeit ca. 20.000, Stand: März 2008) aber auch vielen mitarbeitenden Nicht-Mitgliedern bestehende Netzwerk Attac als Bildungsbewegung mit Aktionscharakter und Expertise. Über Vorträge, Publikationen, Podiumsdikussionen und eine intensive Pressearbeit sollen komplexe Zusammenhänge der Globalisierungsthematik einer breiten Öffentlichkeit vermittelt und Alternativen zum „neoliberalen Dogma“ aufgezeigt werden. Seit mehreren Jahren begleitet ein wissenschaftlicher Beirat die Arbeit von Attac. Mit Aktionen soll der notwendige Druck auf Politik und Wirtschaft zur Umsetzung der Alternativen erzeugt werden. Attac setzt darauf, möglichst viele Menschen zu gewinnen und mit ihnen gemeinsam zu handeln. Mit dem neu gegründeten Jugendnetzwerk noya sollen insbesondere junge Menschen für globalisierungskritische Themen angesprochen werden. Daneben existieren seit Jahren etliche Campus-Gruppen, die speziell auf Studierende und Bildungsthemen ausgerichtet sind. Manche von ihnen kandidieren für Studierendenparlamente und sind dort auch vertreten.


(Quelle: Wikipedia)


Christiane Grefe


Jahrgang 1957, Journalistenschule in München, Politik-Studium, Redakteurin bei Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Magazin, Wochenpost und GEO-Wissen. Seit 1999 Redakteurin und Reporterin im Berliner Büro der Zeit. Bücher: Ende der Spielzeit. Wie wir unsere Kinder verplanen (1995), Kleine Philosophie der Passionen: Reisen (1998), Klimawechsel. Von der fossilen zur solaren Kultur (2001, zusammen mit Hermann Scheer und Carl Amery).




Mathias Greffrath


Jahrgang 1945, Studium der Soziologie, Geschichte und Psychologie an der FU Berlin. Nach dem Studium wurde er Lehrbeauftragter der FU Berlin und arbeitete als freier Journalist für die ARD und im Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit. Von 1991–94 leitete er als Chefredakteur die Zeitschrift Wochenpost in Berlin. Als freier Journalist schreibt er seit 1995 für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung, die tageszeitung, die Zeitschriften GEO und Theater heute, vor allem über die Zukunft der Arbeit und die Auswirkungen der Globalisierung auf Kultur und Gesellschaft. Greffrath erhielt 1988 den Jean-Améry-Preis für Essayistik.




Harald Schumann


Jahrgang 1957, Studium der Sozialwissenschaften und Landschaftsplanung, Abschluss als Dipl.-Ingenieur. Journalistische Stationen bei tageszeitung, Spiegel und Morgen, 1992–2004 Redakteur im Berliner Büro des Spiegel und Ressortleiter Politik bei Spiegel Online, seit Oktober 2004 Redakteur für besondere Aufgaben beim Tagesspiegel. Bücher: Futtermittel und Welthunger (1986), Die Globalisierungsfalle (1996, gemeinsam mit Hans-Peter Martin).


Inhaltsverzeichnis


Etwas bewegt sich



Die neue Bewegung kam nicht aus dem Nichts



Wer ist, was will Attac?






Die Globalisierung folgt dem falschen Programm



Das Finanzsystem – der programmierte Kurzschluss



Die Mutter aller Krisen



Der Washington-Konsens – Wahnsinn mit Methode



Der IWF und Russland – Regierungskriminalität auf höchstem Niveau



Die Asienkrise oder Der IWF sabotiert die Globalisierung



«Den IWF als Rammbock benutzen»



Die Gläubiger machen Kasse



Konzerne auf Schnäppchenjagd



Den IWF demokratisieren!



Macht statt Markt – die globale Währungsunordnung



Sand ins Getriebe – der Streit für die Tobin-Steuer



Offshore – die «Rotlichtzonen des Kapitals»



Unfairer Handel – das WTO-Regime für die Rechte der Starken



Die Mechanik der Ungleichheit brechen






Attac – wie alles anfing



Eine ökonomische Alphabetisierungskampagne



Der Politik Beine machen



Parlamente wachen auf



Die Hüter des Kerngeschäfts



Man muss das Chaos lieben






Attac Deutschland – Bildungswerk und außerparlamentarische Opposition



«Es ist jetzt schick, bei Attac Mitglied zu sein»



Endlich raus aus der politischen Verlassenheit



Attacis backen Arbeitsplätzchen



NGO? Netzwerk? Bewegung? Verein?



Diskutieren, umsetzen, Ergebnis!



Warnung vor dem thematischen Supermarkt



«Das sind ja keineswegs bloß Spinner»



«Ihr seid eine sehr gelegene Konkurrenz»






Demokraten aller Länder...



Wachstumsschmerzen in Europa



First Things First – Next Things Next



Porto Alegre – Bürgerforum, Fachkonferenz, Markt der Möglichkeiten



Ein globaler Marshallplan – und seine Finanzierung



Es ist an der Zeit, durch die Türen zu gehen



Weltgesellschaft mit langem Atem






Vier Zeitzeugen der neuen Bewegung



Der Banker – Thomas Fischer



Die Ideengeberin – Susan George



Der Veteran – Daniel Cohn-Bendit



Die Stimme des Südens – Walden Bello






Anmerkungen


Leseprobe


Etwas bewegt sich






«Widerspruch!» stand auf den T-Shirts, und auf den Spruchbändern: «Eine andere Welt ist möglich». 200 000 Männer und Frauen zogen am 20. Juli 2001 durch die Straßen von Genua. Siebenhundert Gruppen der internationalen Bürgerbewegung hatten zur Demonstration aufgerufen – Dritte-Welt-Organisationen, Initiativen für Schuldenerlass, Umweltgruppen, Gewerkschaften, christliche Nord-Süd-Initiativen, kritische Wissenschaftler aus allen europäischen Ländern, aus beiden Amerikas, aus Asien.






Mit Trillerpfeifen, Transparenten, Masken und Erdkugeln jeder Größe ausgerüstet, liefen sie Sturm gegen die weltweit aus dem Ruder geratene Ökonomie: 34 Millionen Arbeitslose allein in den reichen Nationen, zwei Milliarden Menschen, deren Einkommen unter zwei Dollar am Tag liegt, Tendenz steigend; das Missverhältnis zwischen den Profiten der Finanzjongleure, den in Steueroasen hinterzogenen Steuermilliarden der Privilegierten und den vergleichsweise geringen Beträgen, die nötig wären, um das gröbste Elend auf dem Planeten – Unterernährung, Unwissenheit, Krankheiten – zu bekämpfen. In Liedern und Sprechchören forderten die Demonstranten lautstark den Schuldenerlass für Entwicklungsländer, die Kontrolle der Finanzmärkte und eine Steuer auf Spekulation, einen Umbau der Welthandelsordnung, Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit; sie protestierten gegen die Zerstörung des Sozialstaats, die Patentierung des Lebens, den Raubbau an der Natur. Kurz: gegen diese Globallsierung.






In den Säulenhallen des Palazzo Ducale tagten derweil die Adressaten des Protests: die politischen Führer der sieben reichsten Nationen der Welt mit ihrem russischen Partner. Abgeschirmt wie im Bürgerkrieg, berieten die Staatschefs, die Minister und ihre Beamten. An den Grenzen Italiens wurden Demonstrationsverdächtige, die einreisen wollten, kontrolliert, viele Unbescholtene zurückgeschickt. Vier Tage lang war der Flugverkehr nach Genua eingestellt, Züge umfuhren die Stadt großräumig. In Genua standen die U-Bahnen still, die Anwohner der Innenstadt durften keinen Besuch empfangen und ihre Fenster nicht öffnen. 10 000 Polizisten und 5000 Soldaten standen bereit, Flugabwehrraketen sicherten den Konferenzort, Taucher das Luxusschiff «European Vision», auf dem die G8-Teilnehmer schliefen. Die Altstadt war zur «Roten Zone» erklärt worden und von einem vier Meter hohen Eisenzaun durchtrennt, hinter dem die Mächtigen der Welt ihre – in den Worten des deutschen Bundeskanzlers: «klotzhohlen» – Bekenntnisse zum Wohlstand für alle durch freien Welthandel und zur Bekämpfung der Armut ablegten und wo sie dann für die Aids-Bekämpfung in Afrika gerade einmal ein Viertel der Summe spendierten, die UN-Generalsekretär Kofi Annan eine Woche zuvor als unerlässlich gefordert hatte.






«Wer gegen den Freihandel ist, der ist gegen die Armen» – das war die Botschaft George W. Bushs an die Demonstranten; sein Stellvertreter in Europa, Tony Blair, sprach ihnen die demokratische Legitimation ab. «Die Frage nach der gerechteren Welt ist Thema des Gipfels. Eigentlich müsste man eine Demonstration der Freude veranstalten», diktierte ungnädig der grüne Außenminister Joschka Fischer den Journalisten in den Block. Alle Politiker guten Willens wollen doch dasselbe, suggerierte Fischer mit diesem Satz – wozu also der Auflauf?






Ja, wozu? Sind die weltweiten Probleme nicht in der Tat weltweit erkannt? Selbst von den Topmanagern und Spitzenpolitikern werden die Kritiker angehört, zum Beispiel als Gäste beim jährlichen World Economic Forum im luxuriösen Davos, das in diesem Jahr nach New York umgezogen ist; aber auch in den Vorhallen der Welthandelskonferenzen. Gut, die Meinungen gehen dann auseinander – aber arbeitet man denn nicht am gleichen Ziel? Warum also gehen noch immer so viele Menschen verschiedenster Herkünfte und Altersgruppen das Risiko ein, in einem Atemzug genannt zu werden mit Krawallmachern und schwarzen Blöcken, reisen von einem Gipfel zum anderen, statt den Diskussionsprozess unter gewählten Repräsentanten abzuwarten, der längst eingeleitet ist? Warum misstrauen diese Bürger den Parlamentariern und Ministern, wenn diese doch über Lösungen nachdenken, Kompromisse zwischen den Nationen ausloten, wie die zunächst rein ökonomische Globalisierung politisch zu steuern sei?






Weil diese Bürger darin nur blumige Absichtserklärungen sehen. Denn vorzuweisen haben die Führer der führenden Industrienationen bisher nichts, trotz aller Bekenntnisse: Nach der asiatischen Finanzkrise, die Millionen von Menschen in die absolute Armut stieß, versprachen sie eine Reform der Welt-Finanzordnung – bis heute ist nichts geschehen. Trotz aller Ankündigungen der Finanzminister aus den OECD-Staaten, dem Club der reichen Industrienationen, die Steueroasen auszutrocknen, scheiterten alle entsprechenden Initiativen, vor allem am Widerstand der USA. Und trotz unbestreitbarer Zahlen über die wachsenden Reichtumsunterschiede zwischen Nord und Süd wie in den wohlhabenden Nationen selbst verfolgen deren Regierungen mit Hilfe des von ihnen gelenkten IWF (Internationaler Währungsfonds) und der Welthandelsorganisation WTO nach wie vor ihren Kurs der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung – zum Nutzen des Finanzkapitals und der transnationalen Konzerne.






Die Politik hat abgedankt. So sieht es für viele kritische Beobachter weltweit aus – und so mancher dieser Kritiker sitzt längst selbst in den Bürokratien der wirtschaftlichen Weltorganisationen. Auch in den Parteien, in den Kirchen: Eine Woche vor der Demonstration gegen den G8-Gipfel zogen fast hunderttausend katholische Laien und Verbände durch die Hafenstadt, angeführt von Kardinal Tettamanzi, und ihre Parolen waren identisch mit jenen, die am 20. Juli skandiert wurden. Selbst der Papst hatte einige Wochen zuvor die Herrschaft des Kapitals über die Welt kritisiert. Die Demonstration der Wertkonservativen verlief friedlich und stieß auf das Schweigen praktisch aller großen Medien. Zumindest in Deutschland, wo einzig ein zynischer Leitartikler der FAZ die «trübe Romantik» kritisierte, mit der die Ewiggestrigen immer noch nicht begriffen hätten, dass «die Politik nicht das Metier ist, das der Welt den Stempel aufdrückt».






Am 20. Juli in Genua brach dann auch Gewalt aus: Mehrere tausend Demonstranten lieferten sich eine blutige Schlacht mit der Polizei. Der junge Italiener Carlo Giuliani starb an einer Polizeikugel, mehrere hundert Menschen landeten in Krankenhäusern. Eine Minderheit verunglimpfte die Anliegen der Mehrheit. Doch das hohe Maß an Desorganisation und Brutalität, mit der die Polizei in Genua Hunderte friedfertiger und unbewaffneter Demonstranten misshandelte, die Frage nach dem Anteil der Polizei an der Gewalt beschäftigten die europäische Presse wochenlang, bevor die ganze Debatte im Dunkel berlusconischer Untersuchungsausschüsse verschwand. In Brüssel wurden neue Richtlinien zur Gewaltbekämpfung verabschiedet und der nächste G8-Gipfel in ein kanadisches Bergdorf verlegt.






Die neue Bewegung kam nicht aus dem Nichts






Genua traf die europäische Politik wie ein Schock – aber die Konfrontation war keineswegs aus dem Nichts entstanden. Vielmehr waren die Proteste gegen die Machtanmaßung des G8-Clubs die vorerst letzte Etappe einer Spirale von Bürgerprotest, Gewalt, Aufklärung und öffentlicher Debatte seit dem Jahrtausendwechsel – die auch schon eine Vorgeschichte hat. Weitgehend unbemerkt vom politischen Mainstream formierte sich die neue Bewegung bereits in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Sie war – dank der neuen Kommunikationsmedien E-Mail und Internet – die erste wirklich internationale soziale Bewegung. Die locker verbundene Koalition aus Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen, Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften zielte darauf, die Machtungleichheit zwischen den Vertretern öffentlicher und ökonomischer Interessen anzuprangern und die Aushöhlung der Demokratie durch internationale Institutionen. Ein Prozess, den die meisten Regierenden, selbst kritische Politiker und die Medien kaum oder gar nicht wahrgenommen hatten.






April 1998, im Hinterzimmer eines Berliner Prominentenrestaurants. Der Vorsitzende der SPD, damals noch Oskar Lafontaine, trifft sich mit einem Dutzend Schriftsteller und Journalisten, um über die Möglichkeiten linker Politik im Zeitalter der Globalisierung zu reden. Mit aufgeregter Miene kommt der Wirt durch die Tür, hinter ihm eine Gruppe schwarz gekleideter junger Menschen, die Männer mit sehr kurzen, die Frauen mit exotisch hochgetürmten Haaren. «Wir haben gehört, hier sind Volksvertreter», sagt sanft und bestimmt der Anführer. Die Bodyguards reagieren nervös. «Herr Lafontaine, Herr Thierse, was können Sie uns über das MAI sagen?» Der ostdeutsche SPD-Politiker gibt sofort und untaktisch zu, dass die Abkürzung ihm unbekannt sei. Der Vorsitzende und Finanzexperte der Sozialdemokratie redet etwas länger, aber viel hat er offenbar auch nicht zu sagen, denn geschickt stellt er eine Gegenfrage. Anschließend hört die Runde aus dem Munde des Schwarzgewandeten einen konzentrierten Kurzvortrag zu den Verhandlungen der OECD über das «Multilaterale Investitionsabkommen», das weltweit das Recht von Investoren über die Arbeits-, Umwelt- und Sozialgesetze der Staaten stellen soll, also auf eine globale Übertragung staatlicher Souveränitätsrechte an die multinationalen Unternehmen hinausläuft.






Drei Jahre lang hatten Regierungsvertreter hinter den Türen der OECD in Paris verhandelt. Die Parlamentarier aller Länder waren ahnungslos und die Presse uninformiert über den geplanten globalen Staatsstreich der Kapitalgesellschaften. Dann, im Winter 1997/98, hatte eine kleine kanadische Feministinnengruppe sich den komplizierten, Hunderte von Seiten langen Vertragsentwurf besorgt und ihn ins Internet gestellt. Das deutsche «Komitee Widerstand gegen das MAI» – wenig mehr als der Freundeskreis der Kölner Feministin Maria Mies, einer emeritierten Soziologieprofessorin – hatte eine Übersetzung verbreitet, aber die Presse zeigte noch immer kaum Interesse, ebenso wenig das Parlament. Gezündet hatte es nur bei vereinzelten Bürgerinitiativen, Kirchen- und Dritte-Welt-Gruppen – und bei diesen schwarz gewandeten Studenten der Humboldt-Universität.






Nicht nur das MAI sollte ohne die Bürger beschlossen werden, unbeeinflussbar, unbeachtet, unkontrolliert. Zuvor war schon eine weitgehende ökonomische Neuordnung der Welt ohne jede öffentliche Debatte ins Werk gesetzt worden. Auch ohne parlamentarische Kontrolle – obwohl die Welthandelsverträge die Verfassungstexte von Demokratien in Nord und Süd infrage stellen. 1995 in Washington, kurz bevor der US-Kongress die Uruguay-Verträge über den Freihandel, die zur Gründung der WTO führten, abstimmte, setzte Ralph Naders Organisation «Public Citizen» einen Preis von 10 000 Dollar aus für jedes Kongressmitglied, das mit seiner Unterschrift versichern könne, die Verträge gelesen zu haben, und in der Lage sei, zehn einfache Fragen zu beantworten. Es meldete sich niemand.






Der Streit gegen das MAI war also schon eine Reaktion auf diese Lektion. Diesmal gelang der Durchbruch, und zwar im Mutterland der bürgerlichen Freiheiten, im souveränitätsbewussten Frankreich, indem die «Gauche Rouge» noch über ein paar medienstarke Intellektuelle und Publikationsorgane außerhalb der Nischen verfügt und die Sozialisten gerade an die Macht gekommen waren. Siebzig Organisationen – Gewerkschaften, Bürgerkomitees, NG0s – protestierten, die Regierung setzte eine Kommission ein, die den Vertragstext kritisch lesen ließ. Im Oktober zog sie sich aus den Verhandlungen der OECD zurück, das Abkommen war erledigt.






Nach dem Scheitern der MAI-Verhandlungen probten die Sieger, NGO-Vertreter aus Amerika, Asien und Europa, den Störfall zum zweiten Mal. Nie hatten die politischen Leitartikler damit gerechnet, dass amerikanische Gewerkschafter, darunter die nicht gerade für Internationalismus berühmten Lkw-Fahrer und Metallarbeiter, christliche Umweltgruppen, die seit Jahren die Ausbeutung des Südens durch den Norden analysierten, Entwicklungshilfeagenturen, die milde Gaben sammelten, Naturschützer, die gegen die Ausrottung der Meeresschildkröten durch Riesentrawler und gegen gentechnisch veränderte Sojapflanzen protestieren – dass all diese Gruppen miteinander eine Koalition eingehen könnten. Die protektionistischen Interessen US-amerikanischer Gewerkschafter und die Schutzbedürfnisse junger Industrienationen im Süden, die universalistischen Forderungen von Regenwaldschützern und Menschenrechtlern und die Wachstumshoffnungen sich entwickelnder Staaten – wie sollten sie zusammengehen?






Aber es reichte für eine starke Allianz. Am 1. Dezember 1999 demonstrierten 50 000 Menschen in den Straßen von Seattle, blockierten die Straßenkreuzungen und den Platz vor dem Kongresspalast: Umweltschützer und Gewerkschafter, Studenten und Christen, mexikanische Arbeiter und kalifornische Verbraucher, Biobauern und Zapatisten aus den mexikanischen Chiapas, Greenpeace, Hafenarbeiter und Teamsterbosse. Vier Tage später wurden die Verhandlungen der WTO-Außenminister abgebrochen, ergebnislos. Ein weiterer Sieg, aber diesmal für wen?






Nüchtern betrachtet waren nicht die Demonstrationen der Grund für das Scheitern der «Millenniumsrunde» der WTO, die den Durchbruch zum totalen Freihandel einleiten sollte, sondern die gegensätzlichen Interessen der verhandelnden Nationen: Die USA und die Europäer konnten sich nicht über Agrarsubventionen einigen, die Franzosen wollten ihre Filmindustrie schützen, die Entwicklungsländer lehnten die Einführung von Arbeitsschutznormen und das Verbot von Kinderarbeit ab, außerdem waren sie empört über die demütigende Verhandlungsführung und die Arroganz der Nordstaaten, die sie gänzlich unverhohlen und mit Tagesordnungstricks von wichtigen Diskussionen ausschlossen. Und doch: Seattle war, in den Worten der indischen Aktivistin Vandana Shiva, die seit Jahren gegen die Zerstörung der indischen Agrarkultur durch die Agrarmultis kämpft: «eine Wasserscheide». Gemeinsam forderten die 1500 NG0s aus aller Welt, die sich der Erklärung von Seattle anschlossen, vor allem «ein Moratorium in Bezug auf alle Verhandlungen, die die Reichweite und die Macht der WTO vergrößern. Während dieses Moratoriums muss es eine ausführliche und grundlegende Überprüfung der bestehenden Abkommen geben... (um den Gesellschaften) ... die Gelegenheit zu bieten, den Kurs zu ändern und ein alternatives, humanes und nachhaltiges internationales System der Handels- und Investitionsbeziehungen zu entwickeln.» Dieser Arbeitsauftrag an die Parlamente und die Politiker, der Nationen wird seit Seattle mit wachsendem Nachdruck bekräftigt:






Im Januar 2000 protestierten 1000 Menschen gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos.



Im April 2000 versuchten 20 000 Bürger, durch Sitzblockaden und Menschenketten die Frühjahrstagung von Weltbank und Währungsfonds in Washington lahm zu legen.,



Im September 2000 versammelten sich rund 9000 Demonstranten in Prag gegen Weltbank und IWF.



Im Dezember 2000 zeigten 60 000 Bürger ihren Protest gegen weitere Liberalisierungen in Europa beim EU-Gipfel in Nizza.



Im April 2001 machten 25 000 Menschen beim Wirtschaftsgipfel 34 amerikanischer Staaten in Quebec Front gegen eine panamerikanische Freihandelszone.



Im Juni 2001 gingen 20 000 Demonstranten in Göteborg wiederum anlässlich eines EU-Gipfels auf die Straße. Dort kam es auch zu gewalttätigen Konfrontationen mit der Polizei.






Als Folge dieser Demonstrationen – und der Flut globalisierungskritischer Bücher, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre auf den Markt kamen – gewann die globalisierungskritische Bewegung zunehmend an Thematisierungsmacht: Die Ausbeutung der Genressourcen der Dritten Welt durch die Agrar- und Lebensmittelmultis und ihr Zusammenhang mit dem geplanten TRIPS-Abkommen der WTO; die verheerenden Auswirkungen der Liberalisierung der Finanzmärkte und die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen – diese und andere zuvor ignorierte oder vernachlässigte Themen fanden allmählich den Weg in die Medien. Zumeist freilich nur im Schatten der Straßenschlachten zwischen dem gewalttätigen Rand der Demonstranten und der Polizei. Nicht erst in Genua wurden diese Konfrontationen von Regierungen regelrecht inszeniert. In Prag wurde die Bevölkerung von den Behörden aufgefordert, während der gesamten Konferenzdauer zu Hause zu bleiben und Lebensmittelvorräte anzulegen, die Schulen waren für eine Woche geschlossen, FBI und Scotland Yard drängten der tschechischen Regierung ihre Experten für den Kampf gegen die «Anarchisten» auf. Zum Zeitpunkt der Demonstration war die Stadt menschenleer, nur die Polizei vernahm die Parolen, und nur die Medien konnten sie verstärken.






Ohne Zweifel, die «Schwarzen Blöcke» der halbwüchsigen Demonstranten sind ein Problem, nicht zuletzt für die Veranstalter. Aber man muss kein Verschwörungshysteriker sein, um in der Panikmache von Presse und politischen Sprechern, in der Mobilisierung der Geheimdienste zur präventiven Überwachung «gewaltbereiter Milieus» und der Einschränkung der Reisefreiheit für unbescholtene Demonstranten auch die Absicht zu vermuten, dass von den Missständen, gegen die demonstriert wird, abgelenkt und Kritik in die kriminelle Ecke gestellt werden soll. «Es ist, als ob wir uns auf den Bürgerkrieg vorbereiten», kommentierte der tschechische Staatspräsident Václav Havel das Zusammenwirken von «Sicherheitsstrategen» und Presse. «Es gibt viele Menschen, die weder wissen, was der IWF und die Weltbank tun, noch von den Argumenten der Kritiker eine Ahnung haben; aber alle Welt ist darüber informiert, wie viele Knüppel und Wasserwerfer der Polizei zur Verfügung stehen.»






Wer ist, was will Attac?






Mitgetragen von diesem weltweiten politischen Sog, ihn zugleich verstärkend, sammelte in Frankreich eine Organisation namens Attac 110 000 Unterschriften für die Einführung einer weltweiten Spekulationssteuer und belebte die Debatte mit der Forderung nach dem Umbau der globalen Finanzinstitutionen. Attac – das steht für «Association pour une Taxation des Transactions Financières pour l'aide aux Citoyens», Vereinigung zur Besteuerung der Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger. Sie wurde 1998 gegründet und entwickelte sich innerhalb von zwei Jahren zu einer nicht mehr überhörbaren Stimme in der wirtschaftspolitischen Diskussion Frankreichs. «Man kann», so rief der im Januar 2002 verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu es am 12. Dezember 1995 den streikenden Staatsangestellten an der Gare de Lyon zu, «die internationale Technokratie nur wirksam bekämpfen, wenn man sie auf ihrem ureigensten Gebiet herausfordert, dem der Wirtschaftswissenschaft, und indem man dem verstümmelten Wissen, dessen sie sich bedient, ein Wissen entgegenstellt, das mehr Respekt vor den Menschen und den Realitäten hat, denen diese gegenüberstehen.» Das klingt ein wenig akademisch, aber Attac, als eine Bewegung von Intellektuellen initiiert, hat es in wenigen Jahren geschafft, Hunderttausende von Menschen über das angeblich nur Spezialisten zugängliche Reich der Weltfinanzen, der Handelsverträge, der Wechselkursspekulationen aufzuklären und zu immunisieren gegen die öffentliche Rede von der «Globalisierung als Schicksal».






Und nicht nur in Frankreich: In 41 Ländern haben sich bis heute Attac-Organisationen gegründet, vor allem in Europa und Lateinamerika, aber auch in Kanada, Senegal, Japan. Auf jeder Großdemonstration gegen die Ungerechtigkeiten und Verwüstungen der globalen Finanzunordnung sind die Fahnen von Attac zu sehen, das Netzwerk hat einen erheblichen Teil der 200 000 Protestierer in Genua mobilisiert. Außerdem ist Attac die wichtigste europäische Stimme auf dem Weltsozialgipfel von Porto Alegre, der in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfindet und auf dem 100 000 Delegierte von NG0s aus aller Welt eine Alternative zur Globalisierung des Finanzkapitals und der transnationalen Konzerne suchen. Nach dem Schock von Genua wurde Attac zum Medienliebling: keine Diskussion über G8, Entwicklungspolitik, Finanzmärkte und Privatisierung, zu der die Sprecher nicht gebeten wurden. Attac Deutschland wuchs in wenigen Wochen um 300 Prozent.






Warum spielt gerade diese Gruppe im bunten Gewimmel der Organisationen eine derart herausragende Rolle? Warum beginnen so viele Menschen, teils hoch abstrakte politische und wissenschaftliche Zusammenhänge zu studieren, Verhältnisse in Ländern, die sie nie besucht haben? Warum werden sie politisch aktiv, treten mit anderen Gruppen in Verbindung, in Europa, gar in fernen Kontinenten? Und nicht nur jene, die ohnehin immer engagiert waren, sondern auch Bürger, die sich zuvor auf ihr Privatleben konzentriert haben? Welche Erfahrungen stecken dahinter, wenn sie jetzt rufen: «Die Welt ist keine Ware!»? Was wollen sie erreichen? Das sind die Fragen dieses Buches.






Doch zunächst wollen wir die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe aufzeigen, die zum weltweiten Protest gegen die Globalisierung geführt haben. Das Buch beginnt daher mit einer Analyse der währungs- und finanzpolitischen Prozesse und Entscheidungen, die die dramatischen Krisen des letzten Jahrzehnts auslösten; die wachsende Armut auch in jenen Ländern der Dritten Welt, die sich erfolgreich auf den Weg der Entwicklung gemacht hatten, aber wachsende Ungleichheit und neue Unsicherheit auch im Norden. Im gleichen Kapitel werden die undemokratische Entstehung und die Folgen der globalen Wirtschaftsordnung diskutiert – sowie Sinn und Chancen der von Attac und anderen Globalisierungskritikern vorgeschlagenen Reformansätze. Im zweiten Kapitel beschreiben wir die französischen Wurzeln von Attac, im dritten die Erfolgsgeschichte von Attac in Deutschland, im vierten Perspektiven und Schwierigkeiten für den Aufbau einer internationalen Attac-Bewegung. Im fünften Kapitel folgen Kommentare in Interviews von prominenten «Zeitzeugen» der neuen Bewegung: Thomas Fischer, dem «Chief Risk Officer» der Deutschen Bank; von der Attac-Ideengeberin Susan George, dem thailändischen Soziologen und renommierten Vertreter des «Focus on the Global South» Walden Bello sowie von Daniel Cohn-Bendit, dem grünen Europaparlamentarier, der die Vereinigung Attac aus Frankreich und Deutschland gleichermaßen kennt.






Attac und andere Gruppen werden von denen, die sich mit ihren Anliegen nicht auseinander setzen wollen, gerne als «Globalisierungsgegner» disqualifiziert. Tatsächlich sind sie Kritiker einer Globalisierung, die weltweit das Recht der Stärkeren durchsetzt. Dagegen setzen sie ihre Forderung einer Demokratisierung der globalen Institutionen, von denen die Regeln für das Zusammenwachsen der Menschheit geschrieben werden. Oder, in den Worten des französischen Attac-Präsidenten Bernard Cassen: «Es geht um nichts weniger, als unsere Zukunft wieder selbst in die Hand zu nehmen.»