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Mike Davis
Die Geburt der Dritten Welt

Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter


Berlin 2004 (Assoziation A); 460 Seiten; ISBN 3-935936-11-7
Originaltitel: Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World, London/New York 2001






Ende des 19. Jahrhunderts zerstörten Dürren ungeheuren Ausmaßes wiederholt die Ernährungsgrundlagen in den Teilen der Erde, die heute „Dritte Welt“ genannt werden. Zwischen 1876 und 1879 sowie zwischen 1896 und 1900 starben in den als klimabedingt definierten Hungerkatastrophen und nachfolgenden Epidemien in Äthiopien, Indien, China und Brasilien zwischen dreißig und sechzig Millionen Menschen. Als unmittelbarer Auslöser dieser wenig beachteten, aber ungeheuerlichen Massenvernichtung wurden in der Wissenschaft bisher Wetterphänomene wie El Niño verantwortlich gemacht. – Mike Davis legt in seiner einzigartigen „Politischen Ökologie des Hungers“ die Hintergründe frei, die zur „Geburt der Dritten Welt“ führten und bis heute nachwirken: das Zusammenspiel von Weltklima und Weltökonomie im imperialistischen Zeitalter.

„Wir haben es, mit anderen Worten, nicht mit ‚Hungerländern‘ zu tun, die im Brackwasser der Weltgeschichte ins Abseits gerieten, sondern es geht um das Los der Menschheit in den Tropen, das sich just zu einem Zeitpunkt (1870-1914) änderte, als deren Arbeitskraft und Produkte zwangsweise in die Dynamik der von London gesteuerten Weltwirtschaft integriert wurden. Millionen starben nicht außerhalb des ‚moderenen Weltsystems‘, sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen. Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus; viele wurden, wie wir sehen werden, aufgrund der dogmatischen Auslegung der orthodoxen Prinzipien von Smith, Bentham und Mill regelrecht ermordet.“
(Seite 18)


Mike Davis


geboren 1946 in Fontana, Kalifornien, ist ein US-amerikanischer Sozialkommentator, Soziologe und Historiker. Sein Hauptinteresse galt lange Zeit der Untersuchung der Gesellschaftsstrukturen und der urbanen Entwicklung in seiner Heimat Südkalifornien. International bekannt geworden ist er 1990 mit seinem Bestseller City of Quartz, einer Sozialgeschichte von Los Angeles. Er prägte den Begriff Los Angeles School of Urbanism und wurde dieser zugerechnet, äußerte sich ihr gegenüber aber auch kritisch. Seine jüngeren Veröffentlichungen beschäftigen sich mit der Entstehung von Slums und vergessenen großen Hungersnöten, die er nicht als solche bezeichnet, sondern als Völkermord und in Verbindung mit El Niño-Ereignissen. So schreibt er in seinem Buch Late Victorian Holocaust, wie während der 1870er und 1890er Jahre in nur vordergründig klimabedingten Katastrophen bis zu sechzig Millionen Menschen starben.


Inhaltsverzeichnis


Danksagungen






Vorwort



Ferien im Land des Hungers – Die geheime Geschichte des 19. Jahrhunderts – „Gefangene des Hungers“






Zu den Definitionen



El Niño – Dürre – Hunger (-kausalität) – Hunger (-sterblichkeit) – (Versinnbildlichung des) Holocaust







Teil I: Die große Dürre (1876-1878)







1.

Victorias Gespenster




Indiens Nero – Der „Temple-Lohn“ – Die Bestreikung der Hungerhilfe – Der Abstieg vom Olymp – „Massenhafte Morde“ – Hunger und Nationalismus







2.

Die Armen essen ihre Häuser“




I. China („Zehntausend-Menschen-Gruben“; Shanxi: Das Unbeschreibliche) II. Brasilien (Die zum Untergang Verdammten; Der Exodus zur Küste)







3.

Kanonenboote und Erlöser




Dürre und der imperiale Entwurf für Afrika – Nordafrikas „Offene Gräber“ – Die globale Todesbilanz







Teil II: El Niño und der Neue Imperialismus (1888-1902)







4.

Die Herrschaft der Hölle




Die Dürre folgt dem Pflug – Äthiopien: Die „Grausamen Tage“ – Der Sieg des Hungers über die Mahdisten – Fin de Siècle der Apokalypse







5.

Skelette beim Festmahl




Die Leichenhäuser der Regierung“ (1896/97) – Lasset die Kindlein und wehret ihnen nicht – Blaue Himmel des Hungers (1899-1902) – „Ein wahrhaft imperialistischer Vizekönig“ – Das „Lied des Hungers“ – Das Inferno von Gujarat







6.

Millenaristische Revolutionen




China: „Der zugekorkte Himmel“ – Brasilien: Die Tage des Jüngsten Gerichts – Das koloniale Asien: Hunger als Strategie – Afrika: Europäer sind wie Heuschreckenplagen – Auswirkungen auf das 20. Jahrhundert







Teil III: Die Dechiffrierung von ENSO (El Niño Southern Oscillation)







7.

Das Geheimnis des Monsuns




Eine imperiale Wissenschaft – Sonnenflecken versus Sozialisten – Geopolitik und die Südliche Oszillation – Bjerknes und das ENSO-Paradigma – Klimaveränderungen im Zehn-Jahres-Rhythmus?







8.

Hungerklima




Telekonnektion und Kausalität – Regionale ENSO-Klimatologien (Indien, China, Südostasien, Südamerika, Nordamerika, Südafrika, Das Horn und Ostafrika- Sahelzone und Maghreb, Europa) – Eine El-Niño-Chronologie







Teil IV: Die Politische Ökologie des Hungers







9.

Die Ursprünge der Dritten Welt




Schlechtes Klima“ versus „Schlechtes System“ – „Gesetze aus Leder“ versus „Gesetze aus Eisen“ – Hungeranfälligkeit aus unterschiedlicher Perspektive – Die Niederlage Asiens – Die Weltwirtschaft im spätviktorianischen Zeitalter – Militärische Macht und Goldstandard – Der „malthusianische Mythos“ – Die Vernachlässigung der Bewässerung







10.

Indien: Die Modernisierung der Armut




Das nackte Elend der Baumwolle – Hunger infolge des Weizenbooms – Der koloniale Staat – Privatisierung auf viktorianisch – Der Niedergang der einheimischen Bewässerungssysteme







11.

China: Mandate auf Widerruf




Die Kommerzialisierung der Subsistenz – Die Plünderung der Kornspeicher – Korruption und Devolution – Die offene Rechnung des goldenen Zeitalters – Die Denudation Nordchinas – Die Krise der staatlichen Flusskontrolle – Der Verzicht auf Wasserbau und Strömungskontrolle







12.

Brasilien: Rasse und Kapital im Nordosten




Informeller Kolonialismus und staatliche Leistungen – Eugenik und ökonomische Involution – Der ökologische Niedergang – Die Bewässerungsfarce







Glossar
Anmerkungen
Personenindex


Leseprobe


aus dem Vorwort / “Gefangene des Hungers“ (Seite 21 ff) :

Teil I und II dieses Buches nehmen (…) die Herausforderung einer traditionellen erzählenden Geschichtsschreibung an. Gleichzeitig auftretende verheerende Dürren schufen ein Milieu für komplexe soziale Konflikte, deren Bandbreite von Auseinandersetzungen in den Dörfern über Whitehall bis zum Berliner Kongress reichten. Obwohn missernten und Wasserknappheit epische Ausmaße annahmen – oft waren es die schlimmsten seit Jahrhunderten – gab es fast immer Getreideüberschüsse in anderen Gebieten des Landes oder des Empires, mit denen man die Opfer der Dürre im Grunde hätte retten können. Niemals handelte es sich um einen absoluten Notstand, abgesehen vielleicht von der Situation in Äthiopien 1889. Ausschlaggebend für Leben und Tod waren indessen die aufkommenden Warenmärkte und Preisspekulationen auf der einen und der (breiten Protesten nachgebende) Wille des Staates auf der anderen Seite. Wie wir sehen werden, gab es drastische Unterschiede zwischen den Staaten und ihren Kapazitäten, Missernten auszugleichen, sowie beim Umgang mit vorhandenen Ressourcen bei der Hungerbekämpfung. Das eine Extrem war Britisch-Indien unter der Herrschaft der Vizekönige Lytton, dem zweiten Elgin und Curzon, wo inmitten einer entsetzlichen Hungersnot das [Adam] Smith‘sche Dogma und kaltblütiges imperiales Eigeninteresse den Export riesiger Getreidemengen nach England ermöglichten. Das andere Extrem war der tragische Fall von Äthiopien, wo König Menelik II mit heroischen Anstrengungen, allerdings unzureichenden Mitteln versuchte, sein Volk vor einer Kombination aus natürlichen und von Menschen verschuldeten Plagen wahrhaft biblischen Ausmaßes zu retten.

Aus einer etwas anderen Perspektive betrachtet, wurden die Menschen, um die es in diesem Buch geht, zwischen drei gewaltigen und unerbittlichen Mahlsteinen der modernen Geschichte zerrieben. Erstens kam es zu einer fatalen Synergie extremer Entwicklungen im weltweiten Klimasystem und in der spätviktorianischen Weltwirtschaft. Dies war eigentlich das größte Novum des damaligen Zeitalters. Vor 1870 und der Entstehung eines rudimentären internationalen Wetterdienstsystems hatte man in der Wissenschaft Dürren planetarischen Ausmaßes kaum für möglich gehalten; bis zu diesem Jahrzehnt waren die ländlichen Gegenden Asiens auch noch nicht so weit in die Weltwirtschaft integriert, dass sie ökonomische Schockwellen aussenden oder vom anderen Ende der Welt empfangen konnten. Zwischen 1870 und 1880 finden sich jedoch zahlreiche Hinweise auf einen neuen Teufelskreis (den Stanely Jevons als erster Wirtschaftswissenschaftler erkannte), der über den internationalen Getreidemarkt Wetterbedingungen und Preisschwankungen aneinander koppelte. Plötzlich waren der Weizenpreis in Liverpool und der Niederschlag in Madras Variablen in ein und derselben gigantischen Gleichung des Überlebenskampfes der Menschen.

(…)

Aber wie steht es mit der Rolle der Natur in dieser blutigen Geschichte? Was setzte das große Rad der Dürre in Bewegung, und ist ein periodisches Auftreten charakteristisch? Wie wir in Teil III sehen werden, waren gleichzeitig auftretende Dürren aufgrund massiver Verschiebungen in der üblichen saisonalen Position tropischer Hauptwettersysteme eines der großen wissenschaftlichen Rätsel des 19. Jahrhunderts. Der entscheidende theoretische Durchbruch erfolgte erst in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, als Jakob Bjerknes von der University of California in Los Angeles zum ersten Mal nachwies, wie der äquatoriale Pazifische Ozean, in Verbindung mit den Passatwinden als planetarischer Hitzegenerator fungierend, die Niederschläge in den Tropen und sogar den gemäßigten Breiten beeinflusste.

Rasche Erwärmung des östlichen tropischen Pazifiks (genannt El-Niño) führt beispielsweise zu schwachen Monsunniederschlägen und damit einhergehenden Dürren in weiten Teilen Asiens, Afrikas und im nordöstlichen Südamerika. Ist der östliche Pazifik dagegen ungewöhnlich kühl, kehrt sich das Muster um ( La-Niña-Ereignis genannt), und es kommt zu anomalen Niederschlägen und Überschwemmungen in denselben „televerbundenen“ Regionen. Das ganze gigantische Auf und Ab von Luftmassen und Meerestemperaturen, das bis in den indischen Ozean reicht, wird offiziell als „El-Niño-Southern Oscillaton“ (oder kurz ENSO) bezeichnet.

(…)

Wenn in den Augen der Wissenschaft die Klimakatastrophen des viktorianischen Zeitalters durchweg die unheilvollen Merkmale von ENSO zeigen, so müssen die Historiker diese Erkenntnis erst noch entsprechend auswerten. In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche Fallstudien durchgeführt und Abhandlungen erstellt, die unser Wissen über die Auswirkungen der Weltmarktkräfte auf die Landwirtschaft außerhalb Europas außerordentlich vertieft haben. (…) Teil IV stellt den ehrgeizigen Versuch dar, diese umfangreiche Literatur nach Informationen über die im Hintergrund wirkenden Kräfte zu durchforsten, die für die Anfälligkeit gegenüber Hungersnöten verantwortlich waren und letztendlich auch darüber entschieden, wer sterben musste. Werden in den einleitenden geschichtlichen Abrissen von Teil I und II kurzfristige konjunkturbedingte ökonomische Faktoren (wie das Ende des Baumwollbooms oder die Rezession des Welthandels) beschrieben, beschäftigen sich die abschließenden Kapitel mehr mit den langfristigen strukturellen Prozessen: der perversen Logik der Kommerzialisierung der Subsistenz, den Folgen aus den Verträgen über die Kolonialabgaben, dem Einfluss des neuen Goldstandards, dem Verfall regionaler Bewässerungssysteme, dem informellen Kolonialismus in Brasilien und so weiter. Am Anfang steht ein Kapitel, das eine Übersicht über die gesamte spätviktorianische Wirtschaftsordnung liefert, einschließlich der strategischen Beiträge der indischen und chinesischen Bauernschaft, insbesondere zur Aufrechterhaltung der britischen Vormachtstellung. Danach folgt eine kritische Zusammenfassung einiger Studien jüngeren Datums über Indien, China und Brasilien im 19. Jahrhundert.

Dies ist eine Arbeit über die „Politische Ökologie des Hungers“, da man sowohl vom Standpunkt der Umweltgeschichte und dem der marxistischen Politischen Ökonomie aus argumentieren muss: ein Ansatz zur Analyse der Geschichte der Subsistenzkrisen, wie er von Michael Watts in seinem Buch Silent Violences: Food, Famine and Peasantry in Northern Nigera erstmals entwickelt wurde. Obwohl andere Sammelbegriffe und Verbindungen denkbar sind, ermutigt mich die Tatsache, dass Watts und seine Mitarbeiter ihre Arbeit als „Politische Ökonomie“ bezeichnen, das Gleiche zu tun, und sei es auch nur, um so meine Dankbarkeit und Solidarität zum Ausdruck zu bringen. (Wer mit dem Buch von Watts vertraut ist, wird leicht seinen Einfluss auf meine Arbeit erkennen können.)

Schließlich habe ich noch versucht, David Arnold zu berücksichtigen, der immer wieder die prominente Rolle der Hungerkatastrophen als „Motoren der historischen Transformation“ betont hat. Die großen viktorianischen Hungersnöte waren die Antriebskräfte und beschleunigenden Momente eben jener ökonomischen Kräfte, die sie verursacht hatten. Eine Kernthese dieses Buches ist, dass das, was wir heute (mit einem Begriff aus der Zeit des Kalten Krieges) die „Dritte Welt“ nennen, ein Produkt der Einkommens- und Vermögensungleichheiten ist – der berühmten „Entwicklungslücke“, die vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden ist, als man begann, die großen Bauernschaften außerhalb Europas in die Weltwirtschaft zu integrieren. (…) Am Ende der Herrschaft von Königin Viktoria war (…) die Ungleichheit zwischen den Nationen so groß wie die Ungleichheit zwischen den Klassen. Die Menschheit war unwiderruflich geteilt. Und die berühmten „Gefangenen des Hungers“, die die Internationale zum Aufstand ermutigt, waren ebenso moderne Erfindungen des spätviktorianischen Zeitalters wie das elektrische Licht, Maschinengewehre und der „wissenschaftliche“ Rassismus.


Siehe auch


Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der Dritten Welt