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Irenäus Eibl-Eibesfeldt
In der Falle des Kurzzeitdenkens


München 1998 (Piper); 224 Seiten; ISBN 3-492-03315-6








Die Zukunftsaussichten der Menschheit an der Schwelle zum Dritten Jahrtausend sind das Thema dieses Buches. Wir sind zwar ein „Volltreffer der Evolution“ (Hubert Markl), gefährden aber durch ungezügeltes Machtstreben und Konkurrenzdenken unseren Erfolg und damit auch unser Überleben. Deshalb müssen wir das Kurzzeitdenken, den ständigen Wettlauf im Jetzt, überwinden und ein generationenübergreifendes Überlebensethos entwickeln. Eibl-Eibesfeldt ist davon überzeugt, daß wir vor allem dann eine gute Überlebenschance haben, wenn wir unsere positiven Verhaltensdispositionen nützen. Dazu zählt er die Fürsorge gegenüber unseren Kindern, das Gefühl für Verpflichtung, die Liebe zur Natur oder die Fähigkeit, die Wirklichkeit auch dort wahrzunehmen, wo sie unangenehm ist. Mit seinem Buch will der Begründer der Humanethologie zeigen, wie wir der Falle des Kurzzeitdenkens entrinnen können.


Irenäus Eibl-Eibesfeldt


geboren 1928 in Wien, studierte dort Biologie, war viele Jahre Mitarbeiter von Konrad Lorenz am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie. In den Fünfziger Jahren Expeditionen mit Hans Hass, unter anderem zu den Galapagos-Inseln. Seit 1966 widmete er sich verstärkt der Erforschung menschlichen Verhaltens. Von 1975 bis 1996 war er Leiter der Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft. Er ist Professor an der Universität München und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Stadtethologie in Wien. Veröffentlichungen u.a.: Galapagos, Die Malediven, Liebe und Haß, Krieg und Frieden, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, Der Mensch – das riskierte Wesen, Wider die Mißtrauensgesellschaft, Im Banne der Angst (mit Christa Sütterlin).


Inhaltsverzeichnis


An der Schwelle zum dritten Jahrtausend



Stammesgeschichtliche Belastungen



Wer sind wir?



Der Mensch als Generalist und weltoffenes Neugierwesen



Werkzeugkultur und sachliches Denken



Wie frei sind wir in unseren Entscheidungen?



Vorprogrammierungen



Dominanz und Fürsorglichkeit – die Eckpfeiler menschlicher Sozialität



1. Eine Sternstunde der Verhaltensevolution



2. „Wir und die anderen“



3. Territorialität, Krieg



4. Der Weg in die Großgesellschaft



5. Indoktrination, Symbolidentifikation und Ideologie



Die Falle des Kurzzeitdenkens



1. Problemanlagen



2. Die Programmierung auf den „Wettlauf im Jetzt“



3. Das Kurzzeitdenken in der Landwirtschaft



4. Folgen für Industrie und Handel



5. Die neue Völkerwanderung



Das Europa der Nationen als Chance



Das Konzept der sozialen und ökologischen Friedensregionen



Vernunft und affektives Engagement






Zusammenfassung in 33 Thesen






Miteinander reden – Streitgespräch mit Daniel Cohn-Bendit, 1992






Anhang: Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Personen- und Sachregister


Leseprobe


An der Schwelle zum dritten Jahrtausend






Sind wir geistig und materiell für das dritte Jahrtausend gerüstet? Vielen kommen angesichts der gegenwärtigen Unsicherheiten Zweifel. Wohin führt die in Europa allenthalben festzustellende Individualisierung der Gesellschaft? Bemerken wir nicht eine zunehmende Erodierung bürgerlicher Tugenden und, wohl im Gefolge, Zerfallserscheinungen in den traditionellen nationalen Solidargemeinschaften? Wohin führt die Globalisierung der Wirtschaft? Von einer erhofften weltweiten Verbrüderung ist zunächst nichts zu bemerken, wohl aber von einer Wiederkehr eines rücksichtslosen Wettbewerbs, den die Soziale Marktwirtschaft überwunden zu haben glaubte. Weltweit nimmt die Armut zu, vor allem in den Entwicklungsländern, denn dort werden die meisten Kinder geboren. In Afrika betrug der jährliche Bevölkerungszuwachs (Geburten- minus Sterbefälle) zwischen 1990 und 1995 nach Angaben der Vereinten Nationen 2,8 % gegenüber 0,2 % in Europa. Dabei erreicht die Tragekapazität unseres Planeten für ein menschenwürdiges Dasein ihre Grenzen. Jährlich geht durch Erosion mehr Ackerland verloren, als neu unter den Pflug genommen werden kann. Wanderbewegungen sind die Folge, die unseren Frieden bedrohen, denn auch Europa ist übervölkert und lebt unter anderem vom Import fossiler Energieträger. Nicht auszudenken, welche Folgen ein plötzliches Ausbleiben der Öllieferungen für Westeuropa haben könnte. Zwei Ölkrisen haben wir ja bereits erlebt.






Grund zum Pessimismus? Nicht unbedingt. Man kann all diese Entwicklungen auch als Ergebnis eines außerordentlichen Erfolges betrachten. Wie keine andere größere Art zuvor haben wir Menschen uns über unseren Planeten verbreitet, und wir schufen uns mit der arbeitsteiligen städtischen Großgesellschaft Voraussetzungen für eine einmalige kulturelle Entfaltung im wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Bereich. In hundert Jahren schafften wir den Fortschritt von den ersten unbeholfenen Automobilen zur Raumfahrt. Kinder spielen heute mit elektronischen Geräten, die sich die kühnste Phantasie der Utopisten des vorigen Jahrhunderts nicht auszudenken vermochte. Wir sind zweifellos klug, und das könnte uns weiterhelfen. Zum fatalistischen Treiben-Lassen der Dinge sehe ich keinen Grund. Wir sind, wie Hubert Markl (1986) es einmal ausgedrückt hat, ein „Volltreffer der Evolution“, und das sollte uns zu weiteren Hochleistungen ermutigen. Eigentlich ist kaum vorstellbar, was eine Art, der in einem einzigen Jahrhundert der Durchbruch vom mechanischen ins elektronische Zeitalter gelang, in weiteren tausend, ja zehntausend Jahren alles erreichen könnte.






Allerdings gibt es offensichtliche Probleme. Denn während wir die diffizilsten technischen Herausforderungen bewältigten, diskutieren und experimentieren wir seit Jahrhunderten mit mäßigem Erfolg Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Führung, die zunächst einfacher lösbar scheinen als die Konstruktion einer Marssonde. Wie kommt es, fragen wir uns, daß wir als so intelligente Wesen mit der Lösung unserer sozialen und neuerdings auch ökologischen Probleme solche Schwierigkeiten haben?









Stammesgeschichtliche Belastungen






Im Spätsommer 1975 lernte ich im westlichen Bergland von Neuguinea die Eipo kennen, eine Gruppe neusteinzeitlicher Gartenbauer, die zu jenem Zeitpunkt noch völlig ihren steinzeitlichen Traditionen gemäß lebten. Ihre Gärten brachen sie mit Grabstöcken um. Holz bearbeiteten sie mit Steinbeilen. Ihre Taro-Wurzeln säuberten und schnitten sie mit Schiefermessern. Ihre Kriege führten sie mit Pfeil und Bogen. Sie verzehrten gelegentlich auch ihre Feinde, zeigten also eine Reihe von archaischen Verhaltenszügen. Wulf Schiefenhövel, der wenige Monate zuvor mit einigen Kollegen den Erstkontakt mit dieser Gruppe aufgenommen hatte und der als Felddirektor die Forschungsarbeiten organisierte, hatte einen kleinen Landestreifen angelegt. Als nun die ersten Kleinflugzeuge landen konnten, fragte Schiefenhövel – er hatte mittlerweile die Sprache der Eipo gelernt –, ob nicht zwei der Männer einmal ihre Gegend von oben aus der Luft betrachten wollten (Schiefenhövel 1993). Zwei Mutige fanden das interessant und sagten ja. Allerdings meinten sie, er sollte die Türen aushängen. Sie wußten, daß dies möglich war, denn bis zur Errichtung des Landestreifens war die Forschergruppe durch Abwurf versorgt worden. Die Männer gaben vor, dann besser sehen zu können. Als es zum Start kam, schleppten sie in ihren Armen Felsbrocken herbei. Befragt, wozu, sagten sie: Die wollen wir jetzt, wenn wir über das Fa-Tal fliegen, unseren Feinden aufs Dorf werfen!






Da haben Menschen, die bis dahin Metalle nicht kannten, die Flugzeuge für Boten aus einer anderen,Welt und uns selbst als Geister betrachtet hatten, nun zum erstenmal Gelegenheit, diese Werke der Technik zu benutzen und ihre Welt aus einer neuen Perspektive zu betrachten – und was kommt ihnen in den Sinn? Wie praktisch doch diese Instrumente gegen ihre Feinde einzusetzen wären! Denken die Eipo also modern oder denken wir gar archaisch?






Auf jeden Fall denken wir nicht sehr viel anders. 1891 schaffte Otto Lilienthal die ersten Gleitflüge über 300 Meter, 1896 stürzte er dabei ab. 1900 experimentierten die Gebrüder Dayton und Wilbur Wright mit einem Doppeldecker, 1901 gelangen ihnen die ersten Gleitflüge bis 100 Meter. 1903 bauten sie einen Motor in ihren Doppeldecker ein, der zwei Luftschrauben antrieb. Sie schafften nun schon vier Geradeausflüge bis zu einer Minute Dauer, im folgenden Jahr flogen sie die ersten Bögen und im Jahr darauf die erste größere Strecke über 45 Kilometer. 1908 stellten sie ihr Flugzeug bereits in England vor. Es dauerte nur noch wenige Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, und die Flieger bekämpften sich in der Luft. Kaum hatte sich der Traum des Ikarus erfüllt, wurde auch schon eine Waffe daraus.






Kein wesentlicher Unterschied also zwischen unserer und der Mentalität der Eipo. Aber was liegt dieser Gemeinsamkeit zugrunde? „Wer lange zusah, hat erfahren: nur Waffen ändern sich, die Menschen nicht“, schreibt Rolf Hochhuth im Sommer 14 - Ein Totentanz im Prolog Toteninsel. Es sind wohl alte, affektiv besetzte Verhaltensdispositionen, die hier eine Rolle spielen. Sie werden zum Problem, je größer das Machtpotential ist, das uns die technische Zivilisation in die Hände gibt. Wir müssen uns zunächst einmal mit dem Gedanken vertraut machen, daß Individuen mit steinzeitlicher Emotionalität heute in politischen Führungspositionen das Geschick von Supermächten und damit unter Umständen das von Abermillionen Menschen bestimmen. Und nicht nur die Vernunft und das Engagement der Führenden für Staat und Gesellschaft spielen bei ihren Entscheidungen eine Rolle. Auch Verstimmungen, Ehrgeiz oder Liebesaffären haben politische Auswirkungen, und das sicher nicht immer zum Wohle der Allgeineinheit.






Unser soziales Verhalten ist in weit größerem Umfang durch stammesgeschichtliche Anpassungen mitbestimmt als unser Verhalten gegenüber der außerartlichen Umwelt. Angeboren sind uns zunächst die unserem sozialen Verhalten zugeordneten und unser konkretes Verhalten subjektiv entscheidend beeinflussenden Gefühlsregungen, also Liebe, Haß, Angst und Eifersucht. Angeboren ist uns ferner das Bedürfnis nach Abgrenzung in Gruppen, das Streben nach Dominanz und manch anderes mehr (siehe Kapitel „Vorprogrammierungen“).






All das, was als Disposition, Antrieb oder konkrete Verhaltensanweisung unser soziales Verhalten mitbestimmt, hat sich in jener Zeit entwickelt, in der unsere Vorfahren als aItsteinzeitliche Jäger und Sammler in Kleingesellschaften lebten, in denen jeder jeden kannte. In jener Zeitspanne, die 98% unserer Geschichte ausmacht, bildeten sich alle Anpassungen, die unsere Auseinandersetzungen mit der außerartlichen Umwelt ebenso wie unser soziales Miteinander in gewisser Weise gegen allzu große Modifikabilität und damit auch gegen Irrtümer absichern. Viele Überlebensstrategien, die auch heute noch zu der uns angeborenen Aktions- und Reaktionsausstattung gehören, erfüllen ihre Angepaßtheit in der Gegenwart aber nur noch zum Teil, ja sie erweisen sich in manchen Situationen sogar als stammesgeschichtliche Belastung. Die explosive kulturelle Entwicklung änderte die sozialen und ökologischen Umweltbedingungen. Wir schufen uns eine Umwelt, auf die wir biologisch weniger gut vorbereitet sind und in der bestimmte uns angeborene Verhaltensdispositionen zu Problemanlagen wurden.






Die Biologen wissen, daß die Phänomene des Lebens und insbesondere die des menschlichen Verhaltens durch ein komplexes Zusammenwirken von Ursachen zustande kommen. Im Alltag lassen sich aber zunächst Hauptursachen feststellen, und diese schnell zu erkennen, darauf wurden wir selektiert – denn wie viele Ursachen auch immer zusammenkommen müssen, damit ein Stein geworfen wurde, überlebenswichtig ist, daß ich rechtzeitig erkenne, daß da jemand einen Stein geworfen hat. Diese Selektion auf die Wahrnehmung einer Ursache verbaut uns sehr oft die Einsicht in die Komplexität der Phänomene. Das monokausale Denken ist unter anderem eines der Handikaps, das auf unserer stammesgeschichtlichen Vorprogrammierung beruht. Andere Handikaps betreffen unser Sozialverhalten, das in weit umfangreicherem und auch bedeutenderem Ausmaß durch angeborene Verhaltensdispositionen kontrolliert wird als bisher allgemein angenommen. Dasselbe gilt für unsere Gefühlsregungen, für unsere Programmierung auf den Wettlauf im Jetzt und für unser ausgeprägtes Machtstreben: Alle erweisen sich in ihrer unbewußten Dynamik heute als höchst gefährlich. Ihre Auswirkungen sind vielfältig, im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich, in den zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie in unserem Verhalten zur Umwelt. Insbesondere das Kurzzeitdenken und das Machtstreben werden in einer fatalen Allianz leicht zu einer unsere Zukunft gefährdenden Falle. Es ist in dem vorliegenden Buch mein Anliegen, diese Problemanlagen zu erörtern und einige Vorschläge zur Problemlösung in Form von Thesen zu machen.






Zunächst scheint es mir wichtig, auf die verschiedenen Anlagen einzugehen, denen wir unseren erstaunlichen, wenn auch leider oft blutig errungenen Erfolg verdanken. Das gilt in erster Linie für jene Eigenschaften, die uns zum Kulturwesen von Natur machen und denen wir vor allem unsere intellektuelle und technische Souveränität über die Natur verdanken und die uns schließlich befähigen, daß wir uns Ziele setzen. Danach werde ich unsere sozialen Anlagen vorstellen, den Werdegang der Großgesellschaft diskutieren und auf Grenzen der menschlichen Belastbarkeit hinweisen, die, wie die Geschichte der Revolutionen lehrt (Lasky 1976), von Utopisten häufig übersehen werden.






Die beiden Säulen menschlicher Sozialität sind das Dominanzstreben und die auf Empathie und Fürsorglichkeit begründete Prosozialität. Letztere, der individualisierten Brutfürsorge entstammend, nutzen wir kulturell, um über Indoktrination und Symbolidentifikation Großgesellschaften zu Solidargemeinschaften zu binden, die als Stämme, Ethnien und Nationen auftreten.






Wir werden in diesem Zusammenhang noch einmal das ethnische Phänomen und in Verbindung damit das heutige Migrations- und Flüchtlingsproblem diskutieren, das aus der in einigen Gebieten der Erde rasanten Bevölkerungsvermehrung resultiert. Auch bei diesem brisanten Thema behindert das Kurzzeitdenken, das sich hier mit einem oft wenig reflektierten Bedürfnis, anderen zu helfen, und mit kurzfristigen wirtschaftlichen und parteipolitischen Interessen verbindet, eine vernünftige, den inneren Frieden sichernde Handhabung des Problems (zu dem ich übrigens bereits 1988 und 1994 kritisch Stellung genommen habe). Zuletzt werde ich die wichtigsten Aussagen und Vorschläge für die Umsetzung eines generationenübergreifenden Überlebensethos in Thesen zur Diskussion stellen.


Siehe auch


Fernsehinterview im Bayerischen Rundfunk am 27.5.1998