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David Graeber & David Wengrow
Anfänge
Eine neue Geschichte der Menschheit


Suttgart 2022 (Klett-Cotta); 672 Seiten; ISBN
978-3-608-98508-5

Originaltitel:
The Dawn of Everything. A New History of Humanity




David Graeber und David Wengrow blicken auf die vergangenen 30 000 Jahre zurück und revolutionieren unser Verständnis der Menschheitsgeschichte von Grund auf – mit Folgen bis in unsere Gegenwart und für unsere Zukunft. Spektakuläre archäologische Funde eröffnen ein so bisher noch nie gezeichnetes Panorama, wie menschliche Zivilisationen entstanden sein könnten. Beeindruckend entlarven sie die konventionelle Menschheitsgeschichte: Dass Ackerbau und Städtegründungen zu Hierarchien, Gewalt und Ungleichheit geführt hätten, halten sie für grundlegend falsch. Die „Anfänge“ der Geschichte der Menschheit müssen wir ganz anders und neu zu denken wagen. (Umschlagtext)

»Wenn wir uns mit den tatsächlich vorliegenden Quellen auseinandersetzen, stellen wir immer wieder fest, dass die Realitäten des frühen menschlichen Soziallebens weitaus komplexer und um einiges interessanter waren, als jeder moderne Naturzustandstheoretiker es jemals vermuten würde.« (Seite 28)


David Graeber


geboren 1961 in den USA, unterrichtete bis 2007 als Anthropologe in Yale und lehrte danach am Goldsmith-College in London. Graeber hat fast zwei Jahre in einer direkte Demokratie praktizierenden Gemeinschaft auf Madagaskar gelebt, war bekennender Anarchist, Mitglied der »Industrial Workers of the World« und der wahrscheinlich wichtigste Vordenker der Occupy-Bewegung. David Graeber, Autor mehrerer Weltbestseller, u.a. „Schulden“ (2012), ist am 2. September 2020 im Alter von 59 Jahren völlig überraschend in Venedig gestorben; drei Wochen zuvor hatten er und David Wengrow Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit beendet. Vor mehr als zehn Jahren hatten beide Autoren ihre Arbeit an diesem Opus magnum außerhalb ihrer akademischen Verpflichtungen aufgenommen.




David Wengrow


geboren 1972, studierte Archäologie und Anthropologie in Oxford und unterrichtet am Lehrstuhl für Vergleichende Archäologie an der Universität London. Er leitete Forschungen in Afrika und dem Mittleren Osten, ist einer der führenden Vertreter der "World Archaeology".


Inhaltsverzeichnis


David Wengrow – Vorwort und Widmung
Dank






1. Abschied von der Kindheit der Menschheit
Oder warum dies kein Buch über die Ursprünge der Ungleichheit ist



Warum sich aus der Menschheitsgeschichte nach Hobbes und Rousseau verhängnisvolle politische Konsequenzen ergeben — Warum das verbreitete Verständnis der gesamten Menschheitsgeschichte größtenteils falsch ist – oder die ewige Wiederkehr des Jean-Jacques Rousseau — Warum das herkömmliche Narrativ nicht nur falsch, sondern völlig langweilig ist — Über das Folgende






2. Sündhafte Freiheit
Indigene Kritik und Fortschrittsmythos



Wie Kritik am Eurozentrismus nach hinten losgehen kann und indigene Denker zu „Sprechpuppen“ werden — Was die Einwohner Neufrankreichs von den europäischen Eindringlingen hielten, insbesondere in Fragen von Großmut, Geselligkeit, materiellem Wohlstand, Verbrechen, Strafe und Freiheit — Als Europäer von indigenen Amerikanern etwas darüber lernten, wie logische Argumentation, persönliche Freiheit und Ablehnung willkürlicher Gewalt miteinander verbunden sind — Wir stellen den Wendat-Philosophen und Staatsmann Kondiaronk vor und erklären, wie seine Ansichten über die menschliche Natur und Gesellschaft in den Salons der europäischen Aufklärung zu neuem Leben erwachte – einschließlich eines Exkurses über zwischenmenschliche Abgrenzung („Schismogenese“) — Wir erklären die demiurgischen Kräfte von Turgot und wie er die indigene Kritik an der europäischen Zivilisation auf den Kopf stellte und so die Grundlage für die meisten modernen Sichtweisen gesellschaftlicher Evolution schuf. Oder wie aus einem Streit um „Freiheit“ ein Streit über „Gleichheit“ wurde — Wie Jean-Jacques Rousseau, nachdem er einen renommierten Essaywettbewerb gewonnen hatte und in einem anderen ausgeschieden war, weil er den zulässigen Textumfang überschritt, die gesamte Menschheitsgeschichte eroberte — Die Beziehungen von indigener Kritik, dem Fortschrittsmythos und der Geburt der Linken — Jenseits den „Mythos vom dummen Wilden“ und warum all diese Dinge für unser Anliegen in diesem Buch so wichtig sind






3. Die Eiszeit auftauen
Mit oder ohne Ketten: Die proteischen Möglichkeiten menschlicher Politik



Warum das ‚Sapiens-Paradox‘ eine falsche Fährte ist. Sobald wir Menschen wurden, begannen wir, menschliche Dinge zu tun — Warum selbst sehr erfahrene Forscher immer noch an der Idee vom „Ursprung“ der sozialen Ungleichheit festhalten — Große Bauwerke, fürstliche Bestattungen und andere unerwartete Merkmale eiszeitlicher Gesellschaften haben unsere Annahmen über das Verhalten von Jägern und Sammlern revolutioniert. Sie werfen die Frage auf: Gab es vor 30 000 Jahren ‚soziale Schichtung‘? — Wir entledigen uns des Vorurteils, ‚primitive‘ Menschen seien aus irgend einem Grund zu bewusster Reflexion nicht in der Lage gewesen, und machen auf die historische Bedeutung der Exzentrizität aufmerksam — Was Claude Lévi-Strauss von den Nambikwara über die Rolle von Häuptlingen und über saisonale Veränderungen des Gemeinschaftslebens lernte — Zeugnisse für ‚extreme Individuen‘ und für saisonale Schwankungen des Sozialverhaltens in der Eiszeit und darüber hinaus — Die sogenannte ‚Büffelpolizei‘ – an ihr entdecken wir die Rolle der Saisonalität im politischen und sozialen Leben der Menschen wieder — Warum die Frage nicht lautet: „Was sind die Ursprünge der sozialen Ungleichheit?“, sondern eigentlich lauten müsste: „Warum sind wir stecken geblieben?“ – Was heißt es wirklich, sapiens zu sein






4. Freie Menschen, der Ursprung der Kulturen und die Entstehung des Privateigentums
Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge



Warum der generelle Verlauf der Geschichte dazu führt, dass der Lebensbereich der meisten Menschen immer kleiner wird, während die Populationen größer werden — Was genau ist in „egalitären“ Gesellschaften gleich? — Marshall Sahlins‘ „Die ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft“ oder was passieren kann, wenn extrem scharfsinnige Menschen über Urgeschichte schreiben, ohne über tragfähige Zeugnisse zu verfügen — Neue Entdeckungen in Bezug auf die prähistorischen Jäger und Sammler in Nordamerika und Japan stellen die soziale Evolution auf den Kopf. — Wie der Mythos, Wildbeuter lebten in einem Zustand der kindlichen Einfältigkeit, heute noch (durch Trugschlüsse) aufrechterhalten wird — Eine Widerlegung der besonders dämlichen Ansicht, es sei etwas Besonderes, wenn Jäger und Sammler sich in Territorien ansiedeln, die für Jagen und Sammeln besonders geeignet sind — Die Frage des Eigentums und ihre Beziehung zum Heiligen






5. Vor langer Zeit
Warum kanadische Jäger und Sammler Sklaven hielten und ihre kalifornischen Nachbarn nicht – oder das Problem der »Produktionsweisen«



Die Frage der kulturellen Differenzierung — Die Frage der „Kulturareale“ und ihre bisweilen abfällige, nur selten anregende und oftmals unzureichende Behandlung — Die Anwendung der Erkenntnisse von Marcel Mauss auf die Pazifikküste und warum Walter Goldschmidts absurde Bezeichnung der kalifornischen Ureinwohner als „protestantische Jäger und Sammler“ uns dennoch etwas zu sagen hat — Eine Schismogenese zwischen „protestantischen Jägern und Sammlern“ und „Fischerkönigen“ — Über „Produktionsweisen“ und das Wesen der Sklaverei — Die „Geschichte der Wogie“ – ein warnendes indigenes Beispiel dafür, wie gefährlich es sein kann, andere zu versklaven, um schnell reich zu werden (und eine kleine Nebenbemerkung über „Gewehre“, Saatgut und Stahl“) — Ist es besser Fische zu fangen oder Eicheln zu sammeln? — Die Pflege der Differenz in der pazifischen „Splitterzone“ — Ein paar Schlussfolgerungen






6. Die Adonisgärten
Die Revolution, die niemals stattfand: Wie jungsteinzeitliche Völker die Landwirtschaft umgingen



Platonische Vorurteile und wie sie unsere Vorstellung von den Anfängen des Ackerbaus vernebeln — Wie Çatalhöyük, die älteste Stadt der Welt, eine neue Geschichte bekam — Wir betreten eine verbotene wissenschaftliche Zone und diskutieren die Möglichkeit jungsteinzeitlicher Matriarchate — Wie das Leben in der berühmtesten jungsteinzeitlichen Stadt der Welt ausgesehen haben könnte — Das soziale Leben früher Ackerbaugesellschaften im jahreszeitlichen Ablauf — Wie der fruchtbare Halbmond auseinanderbrach — Langsam kultivierter Weizen und populäre Theorien, wie wir Bauern wurden — Warum es so lange dauerte, bis sich die jungsteinzeitliche Landwirtschaft entwickelte und warum dabei keine umfriedeten Felder entstanden, wie Rousseau es sich vorstellte — Über die Frau, die Wissenschaftlerin — Ackerbau oder nicht Ackerbau – alles Kopfsache (womit wir nach Göbekli Tepe zurückkehren) — Über semantische Fallstricke und metaphysische Trugbilder






7. Die Ökologie der Freiheit
Wie die Landwirtschaft erst einen Sprung nach vorn machte, dann strauchelte und sich schließlich um die ganze Welt mogelte



Zur Begrifflichkeit über weltweite Verbreitung von Nutzpflanzen und Nutztieren — Warum sich die Landwirtschaft nicht früher entwickelte — Ein abschreckendes Beispiel aus der Jungsteinzeit: Das grausige und überraschende Schicksal der ersten europäischen Bauern — Über einige ganz andere Orte, an denen die jungsteinzeitliche Landwirtschaft Fuß fasste: Die Umwandlung des Niltals (ca. 5000-4000 v. Chr.) und die Besiedlung der ozeanischen Inseln (ca. 1600-500 v. Chr.) — Über den Fall Amazonien und die Möglichkeiten einer ‚spielerischen Landwirtschaft‘ — Aber warum ist das alles von Bedeutung? Eine kurze Wiederholung zu den Gefahren teleologischen Denkens






8. Imaginäre Städte
Eurasiens erste Städter – in Mesopotamien, dem Indus-Tal, der Ukraine und China – und wie sie Städte ohne Könige erbauten



Das leidige Thema „Größenordnung“ — Wir stecken den Rahmen für eine Welt der Städte ab und spekulieren über ihre Entstehung — „Megastätten“: Wie archäölogische Funde in der Ukraine das herkömmliche Wissen über die Entstehung von Städten auf den Kopf stellen — Über Mesopotamien und eine ‚nicht ganz so primitive‘ Demokratie — Wie die Geschichtsschreibung (und wahrscheinlich auch die mündliche Erzählkunst) begann: mit großen Räten in den Städten und kleinen Königreichen in den Hügeln — War die Indus-Zivilisation ein Beispiel dafür, dass das Kastensystem vor dem Königtum entstand? — Über einen offenkundigen Fall von „urbaner Revolution“ in der chinesischen Vorgeschichte.






9. Im Verborgenen schlummernd
Die indigenen Ursprünge des sozialen Wohnungsbaus und der Demokratie in Amerika



Fremde als Könige im Tiefland der Maya und ihre Verbindung mit Teotihuacán — Wie die Bewohner von Teotihuacán auf die Errichtung von Monumenten und auf Menschenopfer verzichteten und stattdessen ein bemerkenswertes Projekt des sozialen Wohnungsbaus in Angriff nahmen — Über Tlaxcala, eine indigene Republik, die sich dem Aztekenreich widersetzte und später mit den spanischen Invasoren verbündete, und darüber, wie diese schicksalhafte Entscheidung aus demokratischen Beratungen in einem städtischen Parlament hervorging (im Gegensatz zu den faszinierenden Auswirkungen europäischer Technologie auf das Denken der ‚Indianer‘)






10. Warum der Staat keinen Ursprung hat
Die bescheidenen Anfänge von Souveränität, Bürokratie und Politik



Die drei Grundformen der Herrschaft und ihre Auswirkungen auf die menschliche Geschichte — Über Azteken, Inka und Maya (und dann auch die Spanier) — Exkurs: Die „Form der Zeit“ und wie Wachstums- und Verfallsmetaphern einen politisch voreingenommenen Blick auf die Geschichte bewirken — Politik als Sport: Der Fall der Olmeken — Chavín de Huántar: Ein Reich auf Bildern errichtet? — Souveränität ohne „Staat“ — Wie Fürsorge, rituelle Tötungen und „winzige Blasen“ in Ägyptens Frühzeit zusammenkamen — Die Unterschiede der „frühen Staaten“ von China bis Mesoamerika — Der frühe ägyptische Staat im Licht der drei Grundformen der Herrschaft und das Problem der „Dunklen Zeitalter“ — Die wahren Ursprünge der Bürokratie und ihre überraschend kleinen Anfänge — Die Prämissen der gesellschaftlichen Entwicklung im Spiegel des neuen Wissens — Zivilisation, leere Wände und eine neue Geschichtsschreibung






11. Der Kreis schließt sich
Über die historischen Grundlagen der indigenen Kritik



Die Argumentation von James C. Scott in Bezug auf die vergangenen 5000 Jahre und die Frage, ob die heutige Weltordnung wirklich unvermeidbar war — Warum hatte ein Großteil Nordamerikas ein einziges einheitliches Clan-System, und welche Rolle spielte die „Hopewell-Interaktionssphäre“ dabei? — Die Geschichte von Cahokia, dem vermutlich ersten „Staat“ in Amerika — Wie der Zusammenbruch der Welt am Mississippi und die Ablehnung ihres Vermächtnisses während der europäischen Invasion neuen Formen indigener Politik den Weg ebnete — Das Prinzip der Selbstverfassung bei den Osage, das später in Montesquieus Vom Geist der Gesetze gepriesen wurde — Die Irokesen und die politischen Weltanschauungen, mit denen Kondiaronk aufwuchs






12. Schluss
Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit






ANHANG
Bibliographie
Anmerkungen
Bild- und Kartenverzeichnis
Namen- und Ortsregister


Leseprobe


bei Klett-Cotta: www.klett-cotta.de/media/14/9783608985085.pdf


Zitate


Seite 22 Als wir um das Jahr 2010 dieses Buch auszuarbeiten begannen, beabsichtigten wir, neue Antworten auf die Frage nach den Ursprüngen sozialer Ungleichheit zu finden. Bald erkannten wir, dass unser Ansatz nicht sehr glücklich gewählt war. Betrachteten wir die Menschheitsgeschichte so, gingen wir notwendigerweise davon aus, die Menschheit hätte sich einst in einem idyllischen Zustand befunden und ab einem bestimmten Zeitpunkt wäre alles schiefgegangen. Mit dieser Prämisse war es fast unmöglich, auch nur eine der Fragen zu stellen, die uns wirklich interessierten. Wir bekamen das Gefühl, wir alle säßen in derselben Falle. Die meisten Spezialisten weigerten sich, allgemeine Aussagen zu machen. Und wer es doch riskierte, reproduzierte und variierte fast ausnahmslos Rousseau.

Seite 35
Einer der verhängnisvollsten Aspekte gängiger universalgeschichtlicher Narrative besteht gerade darin, alles auszutrocknen. Menschen werden auf Stereotypen aus Pappe reduziert und die Probleme – sind wir von Natur aus egoistisch und gewalttätig oder von Natur aus freundlich und kooperativ? – so sehr vereinfacht, dass dieser Vorgang unseren Sinn für Menschenmögliches untergräbt und anscheinend sogar zerstört. ‚Edle‘ Wilde sind genauso langweilig wie Wilde, weder das eine noch das andere existiert wirklich.

Seite 39
In diesem Buch legen wir nicht nur eine neue Geschichte der Menschheit vor, sondern wollen den Leser auch zu einer neuen Geschichtswissenschaft einladen, durch die unsere Vorfahren ihre volle Menschlichkeit zurückerhalten. Anstatt zu fragen, wie wir ungleich geworden sind, fragen wir zunächst, wie es dazu kam, dass „Ungleichheit“ überhaupt ein so wichtiges Thema wurde, und bauen dann schrittweise ein alternatives Narrativ auf, das unserem heutigen Wissensstand eher entspricht. Wenn die Menschen nicht 95 Prozent ihrer evolutionären Vergangenheit in kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern verbracht haben, was haben sie dann die ganze Zeit getan? Wenn der Ackerbau und die Städte nicht mit der plötzlichen Entstehung von Hierarchie und Herrschaft verbunden waren, was bedeuteten sie dann? Was geschah wirklich in den Perioden, die wir gewöhnlich mit der Entstehung „des Staates“ in Verbindung bringen? Die Antworten auf diese Fragen sind oft unerwartet und lassen vermuten, dass der Verlauf der Menschheitsgeschichte weniger in Stein gemeißelt und reicher an spielerischen Möglichkeiten ist, als gemeinhin angenommen wird.

Seite161f
…letztlich gab es keinen „ursprünglichen“ Zustand. Wer immer darauf besteht, es habe einen gegeben, produziert einen Mythos (…). Die Menschen haben viele 10 000 Jahre mit unterschiedlichen Lebensweisen experimentiert, lange bevor sich irgendjemand der Landwirtschaft widmete. Stattdessen sollten wir lieber nach der Gesamtrichtung der Veränderung suchen, um zu verstehen, was sie mit unserer Frage zu tun hat, die da lautet: Warum haben wir Menschen fast gänzlich die Flexibilität und Freiheit verloren, die früher offenbar für unsere sozialen Ordnungen kennzeichnend waren, und stecken in permanenten Beziehungen von Dominanz und Unterwerfung fest?

Seite 186
Die Behauptung, es habe nur Jäger und Sammler gegeben, die in kleinen Gruppen umherzogen, bevor sich die Landwirtschaft als Produktionsform etablierte, ist ein verbreiteter Irrtum. In der Tat waren Wildbeutergesellschaften vielerorts schon Jahrtausende vor den landwirtschaftlichen Anfängen sesshaft geworden. Sie lebten in auffällig weiträumigen Siedlungen, häuften Besitz an und errichteten monumentale Heiligtümer, die von Ritualspezialisten, hochqualifizierten Handwerkern und Architekten stammten.

Seite 273f Im Fruchtbaren Halbmond des Nahen Ostens, der lange als Wiege der „Landwirtschaftlichen Revolution“ galt, gab es keinen „Wechsel“ vom altsteinzeitlichen Jäger und Sammler zum jungsteinzeitlichen Bauern. Der Übergang von einer Nahrungsbedarfsdeckung aus vorwiegend natürlichen Ressourcen zu einer Lebensweise, die darauf fußte, Nahrungsmittel zu produzieren, brauchte um die 3000 Jahre. Die Landwirtschaft schuf zwar die Möglichkeiten für eine noch ungleichere Güterverteilung, doch in den meisten Fällen begann dies erst Jahrtausende, nachdem sie eingeführt worden war. In den Jahrhunderten dazwischen versuchten sich die Menschen ehe spielerisch, wenn man so will, an der Landwirtschaft und wechselten ihre Herstellungsmethoden ebenso, wie sie ihre gesellschaftlichen Strukturen immer wieder ‚verflüssigten‘ und veränderten. Angesichts derart langwieriger und komplexer Prozesse ist es folglich nicht mehr sinnvoll, noch von einer „Landwirtschaftlichen Revolution“ zu sprechen.

Seite 287 Sich flexibel für und gegen die Landwirtschaft zu entscheiden oder an ihrer Schwelle zu verharren, erweist sich als etwas, das unsere Spezies über weite Teile ihrer Vergangenheit erfolgreich getan hat. Solche veränderlichen ökologischen Arrangements – Kombinationen aus Gartenbau,Schwemmlandbau an Seen und Flüssen oder Landschaftspflege in kleinem Maßstab (etwa durch Brandrodung, Schnitt oder Terrassierung) sowie dem Einpferchen oder Halten halbwilder Tiere, verbunden mit vielfältigen, verschiedenen Jagd-, Angel- oder Sammelaktivitäten – waren einst typisch für menschliche Gesellschaften in vielen Teilen der Welt. Oft wurden diese Aktivitäten über Jahrtausende beibehalten und ernährten nicht selten große Populationen. (…) Biodiversität – nicht Biopower – war der ursprüngliche Schlüssel, der die jungsteinzeitliche Nahrungsmittelproduktion anwachsen ließ.

Seite 299f Warum kam es bei jungsteinzeitlichen Bauern in bestimmten Teilen Europas anfangs zu einem Bevölkerungskollaps bislang unbekannten Ausmaßes (…)? Hinweise darauf verbergen sich in den kleinsten Details. So zeigt sich, dass sich der Getreideanbau auf seinem Weg von Südwestasien über den Balkan bis nach Mitteleuropa teilweise entscheidend veränderte. Ursprünglich wurden drei Sorten Weizen (Einkorn, Emmer und Nacktweizen) und zwei Sorten Gerste (Spelzgerste und Nacktgerste) angebaut, aber auch fünf verschiedene Hülsenfrüchte (Erbsen, Linsen, Platterbsen, Kichererbsen und Kicherling). In den meisten Fundstätten der Bandkeramikkultur finden sich jedoch nur Spelzweizen (Einkorn, Emmer) und eine oder zwei Sorten von Hülsenfrüchten. Die jungsteinzeitliche Ökonomie war also zunehmend begrenzt und gleichförmig geworden, ein blasses Abbild ihres nahöstlichen Originals. Zudem boten die mitteleuropäischen Lößlandschaften wenig topographische Variabilität und kaum Gelegenheit, neue Ressourcen hinzuzufügen, während dichte Jäger- und Sammlerpopulationen sich nicht über die Küstengebiete hinaus verbreiteten. Für die ersten Bauern Europas drehte sich schließlich fast alles nur noch um ein einziges Nahrungsnetz und um das eigene Überleben. Der Getreideanbau ernährte die Gemeinschaft. Seine Nebenprodukte – Spreu und Stroh – lieferten Brennstoff, Tierfutter und einfache Baumaterialien, darunter Magerungsmittel für die Keramik und Wurflehm für die Häuser. Das Vieh bot gelegentlich Fleisch, aber auch Milch und Wolle sowie Dünger für die Gärten. Mit ihren Langhäusern aus Flechtwerk und Lehm sowie ihrer spärlichen kulturellen Materialien sind diese frühen europäischen Ackerbaugesellschaften den bäuerlichen Gesellschaften wesentlich späterer Zeitalter verblüffend ähnlich. Höchstwahrscheinlich gilt das auch für die äußeren und inneren Kehrseiten: So hatten die Menschen nicht nur mit regelmäßigen Raubüberfällen, sondern auch mit Arbeitskräftemangel, Bodenauslaugung, Krankheiten und Missernten zu kämpfen. Zwischen den zahlreichen, auf Leistung und Gegenleistung angewiesenen Gemeinschaften blieb dabei nur wenig Spielraum, um sich gegenseitig zu helfen. Die jungsteinzeitliche Landwirtschaft war ein Experiment, das misslingen konnte – was gelegentlich auch geschah.

Seite 302 Wie wir nun wissen, begann die Landwirtschaft häufig als Mangelwirtschaft: Sie wurde dann eingeführt, wenn nichts anderes mehr übrig blieb, weshalb sie meist in Gebieten aufkam, wo kaum oder wenig Ressourcen verfügbar waren. In den Überlebensstrategien des frühen Holozäns trat sie selten auf, besaß aber überaus großes Wachstumspotenzial, insbesondere als man den Getreideanbau ergänzte, indem man zusätzlich Nutztiere hielt. Trotzdem war sie evolutionär recht neu.

Seite 304f Heute wissen wir,dass es in manchen Gebieten Städte gab, die sich jahrhundertelang selbst verwalteten, ohne das geringste Anzeichen für Tempel und Paläste, die erst viel später gebaut wurden. In vielen frühen Städten findet sich schlicht keinerlei Hinweis auf eine Administration oder eine herrschende Schicht. In anderen hat es den Anschein, als sei eine zentrale Macht entstanden und dann wieder verschwunden. Offenbar führt urbanes Leben allein also nicht zwangsweise zu einer bestimmten Form politischer Organisation – und das war auch nie der Fall.

Seite 348 Wissenschaftler neigen dazu, klare und unwiderlegbare Beweise dafür zu fordern, demokratische Institutionen jeglicher Art hätten in der fernen Vergangenheit existiert. Auffällig ist, dass dies für Autoritätsstrukturen von oben nach unten nicht gilt. Letztere betrachtet man offenbar als historischen Standardmodus – als die Art gesellschaftlicher Gefüge, die man schlicht erwartet, wenn es keine Anhaltspunkte für irgendetwas anderes gibt.

Seite 412 Unser Bild von den vergangenen 5000 Jahren der Menschheitsgeschichte ist von Städten, Imperien und Königreichen geprägt, obwohl es sich dabei nur um Inseln der Hierarchie in einem politischen Meer handelte, dessen Bewohner – sofern sie überhaupt ins Blickfeld der Historiker gerieten – überwiegend in „Stammesverbänden“, „Amphiktyonien“ (Städtebünde) oder „segmentären Gesellschaften“ lebten, wie es die Anthropologen nennen – also in gleichartigen und gleichrangigen Gruppen ohne zentrale politische Institutionen. Aus Afrika, Nordamerika und Asien, wo solche lockeren politischen Zusammenschlüsse noch bis in jüngste Zeit existierten, wissen wir zwar ein wenig darüber, wie solche Gesellschaften funktionieren. Aber aus der Zeit, als sie weltweit die dominierende Herrschaftsform waren, haben wir so gut wie keine Informationen über sie.

Seite 461f Der Ursprung des “Staates“ wurde lange Zeit an so unterschiedlichen Orten wie dem Alten Ägypten, dem inka-zeitlichen Peru und im China der Shang-Dynastie gesucht. Doch das, was wir heute unter einem Staat verstehen, ist keineswegs eine historische Konstante. Er ist auch nicht das Ergebnis eines langen evolutionären Prozesses, der in der Bronzezeit begann, sondern (…) aus dem Zusammenspiel von Souveränität, Verwaltung und Wettbewerb entstanden, die jeweils unterschiedliche Ursprünge haben. Moderne Staaten sind nichts anderes als eine besondere Form des Zusammenspiels dieser drei Herrschaftsprinzipien, die sich mehr oder weniger zufällig herausgebildet hat. (…) Wir sind stets davon ausgegangen, die Geschichte habe uns „Zivilisation“ und „Staat“ als zusammengehörige Phänomene sozusagen im Paket überreicht – man nimmt es an oder lässt es eben bleiben, für immer. Doch nun, bei genauerem Hinsehen, zeigt sich, diese Konzepte repräsentieren in Wahrheit ein komplexes Gemisch aus Einzelfaktoren mit völlig unterschiedlichen Ursprüngen, das derzeit im Begriff ist, sich wieder aufzulösen.

Seite 462-464 Wenn von „frühen Zivilisationen“ die Rede ist, sind zumeist (…) das pharaonische Ägypten, das inka-zeitliche Peru, das aztekische Mexiko, das Han-China, aber auch das kaiserliche Rom, das klassische Griechenland und andere antike Gemeinschaften mit einer gewissen Größe und Komplexität [gemeint]. Dabei handelt es sich um massiv in Schichten eingeteilte Gesellschaften, deren Kitt in aller Regel eine autoritäre Herrschaft, Gewalt und die totale Unterwerfung der Frauen waren. (…) Eine Geschichte der Zivilisation könnte [aber] durchaus mit jenen ausgedehnten „Kulturräumen“ oder „Interaktionssphären“ beginnen, die sich mittlerweile bis in Zeiten zurückverfolgen lassen, die weit vor der Entstehung von Königreichen oder Städten liegen. Die archäologischen Hinterlassenschaften belegen die lange Geschichte dieser Art von Zivilisation, die sich durch eine gemeinsame Lebensweise, Rituale und Gastfreundschaften auszeichnet – was in mancherlei Hinsicht inspirierender ist als Bauten und Denkmäler. (…) Und noch etwas anderes verdeutlicht dieses präzisere Verständnis von Zivilisation, nämlich dass Frauen bei den beschriebenen Innovationsprozessen eine entscheidende Rolle gespielt haben müssen. (…) Was bislang als „Zivilisation“ galt, ist vielleicht nichts anderes, als die geschlechtsspezifische Aneignung eines früheren, ursprünglich weiblichen Wissenssystem durch Männer, die ihre Ansprüche buchstäblich in Stein meißelten.

Seite 484 Als die Europäer an der nordamerikanischen Ostküste ankamen, war die „Mississippi-Kultur“, wie sie heute genannt wird, nur noch eine ferne Reminiszenz, und die Nachkommen der Untertanen und Nachbarn von Cahokia hatten sich offenbar in Stammesrepubliken von der Größe einer Polis neu organisiert, die in einem sorgfältig austarierten ökologischen Gleichgewicht mit ihrer natürlichen Umgebung lebten. Was war geschehen? Waren die Herrscher von Cahokia und den anderen Städten der Mississippi-Kultur durch Volksaufstände gestürzt oder durch massenweise Abwanderung sabotiert worden, oder hatte sie eine ökologische Katastrophe ereilt? Oder war ihr Niedergang – und dies dürfte wahrscheinlicher sein – auf alle drei Faktoren zurückzuführen? Vielleicht wird die Archäologie eines Tages genauere Antworten liefern. Bis dahin können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass die Gesellschaften, auf die die europäischen Invasoren ab dem 16. Jahrhundert trafen, aus jahrhundertelangen politischen Konflikten und bewussten Debatten entwickelten. In vielen Fällen handelte es sich um Gesellschaften, in denen die Fähigkeit, bewusste politische Debatten führen zu können, als einer der höchsten menschlichen Werte angesehen wurde. (…) Wenngleich spätere europäische Autoren die nordamerikanischen Ureinwohner gerne als unschuldige Naturkinder betrachteten, waren diese in Wirklichkeit Erben einer eigenen langen intellektuellen und politischen Geschichte (…).

Seite 536 In den Kapiteln dieses Buches behandelten wir (…) die grundlegenden Formen sozialer Freiheit, die man durchaus in die Praxis umsetzen kann: (1) die Freiheit, seine Umgebung zu verlassen und an einen anderen Ort zu ziehen; (2) die Freiheit, die Befehle anderer zu ignorieren oder zu missachten; (3) die Freiheit, völlig neue soziale Realitäten zu schaffen oder sich zwischen verschiedenen sozialen Realitäten hin- und herzubewegen. – Heute sehen wir, dass die beiden ersten Freiheiten: den Ort zu wechseln oder Befehlen nicht zu gehorchen, oft als eine Art Basis für die dritte, kreativere Freiheit dienen. (…) Solange die ersten zwei Freiheiten, wie in vielen nordamerikanischen Gesellschaften noch bei ihrem ersten Kontakt mit Europäern, selbstverständlich waren, konnten dort lediglich Spielkönige als Könige existieren. Wenn ein König seine Befugnisse überschritt, hatten seine Untertanen immer die Möglichkeit, ihn zu ignorieren oder an einen anderen Ort zu ziehen. Dasselbe gilt ebenso für alle anderen Ämterhierarchien und Herrschaftssysteme. Auch eine Polizei, die nur drei Monate im Jahr im Einsatz war und deren Mitglieder jährlich wechselten, war in gewissem Sinne eine Spielpolizei (…). – Die drei Grundfreiheiten sind allmählich bis zu einem Punkt verschwunden, da eine Mehrheit der heute lebenden Menschen kaum mehr verstehen kann, wie es wäre, in einer auf ihnen beruhenden sozialen Ordnung zu leben.

Seite 548f Ein offenbar gängiges Vorurteil in der akademischen Welt, und nicht nur dort, besagt, eine Bevölkerung, wenn sie um ein Vielfaches wächst, brauche unvermeidlich bestimmte Herrschaftsstrukturen, also bestehe ein notwendiger Zusammenhang zwischen sozialen und räumlichen Hierarchien. Immer wieder stießen wir in Schriften auf die Annahme, das Organisationssystem einer sozialen Gruppe müsse umso „komplexer“ gewesen sein, je größer diese Organisation und je dichter besiedelt ihr Territorium war. Komplexität steht bis heute oft als Synonym für Hierarchie. Hierarchie wiederum ist der Euphemismus für Befehlsketten (die „Ursprünge des Staates“). Diese Befehle aber bedeuten, dass eine große Zahl von Menschen, wenn sie beschließt, an einem Ort zu leben oder sich einem gemeinsamen Projekt anzuschließen, notwendigerweise ihre zweite Freiheit – die Freiheit, Befehle zu verweigern – aufgeben muss. Diese zweite Freiheit wird durch legale Mechanismen ersetzt, damit man Menschen, die nicht tun, was ihnen gesagt wird, beispielsweise verprügeln oder einsperren darf. – Wie wir gesehen haben, sind alle diese Annahmen theoretisch entbehrlich und werden von den historischen Zeugnissen tendenziell nicht bestätigt.

Seite 549 Früher hatte man angenommen, die Entstehung städtischen Lebens bezeichne ein historisches Drehkreuz, an dem jeder, der es passierte, für immer seine Grundfreiheiten aufgeben und sich der Herrschaft gesichtsloser Verwalter, strenger Priester, paternalistischer Könige oder kriegerischer Politiker unterwerfen musste, nur um dem Chaos oder geistiger Überforderung zu entgehen. (…) Solche Auffassungen entbehren psychologisch gesehen einer soliden Grundlage; sie sind auch kaum mit den archäologischen Zeugnissen dafür zu vereinbaren, wie Städte in vielen Teilen der Welt tatsächlich entstanden sind, nämlich als bürgerliche Experimente großen Stils, denen häufig die erwarteten Merkmale administrativer Hierarchie und autoritärer Herrschaft fehlten.

Seite 553 Wenn es eine herausragende Geschichte gibt, die wir erzählen sollten, eine bedeutende Frage, die wir (…) an die Menschheitsgeschichte richten sollten, dann ist es genau diese: Wie sind wir in einer einzigen Form sozialer Realität stehen geblieben, und warum sind Beziehungen, die letztlich auf Gewalt und Herrschaft beruhen, in dieser Realität normal geworden?

Seite 557f Womöglich werden wir, wenn unsere Spezies überlebt, eines Tages (…) zurückblicken und Aspekte der fernen Vergangenheit, die heute wie Anomalien wirken – Bürokratien, die im Gemeindemaßstab arbeiten; Städte, die von Nachbarschaftsräten regiert werden; Regierungssysteme, in denen Frauen eine Mehrheit der offiziellen Posten bekleiden; Formen der Landverwaltung, die eher auf Pflege als auf Besitz und Ausbeutung beruhen –, als die wirklich bedeutenden Durchbrüche erkennen und große Steinpyramiden oder Statuen eher für historische Kuriositäten halten. Wie wäre es, wenn wir diesen Ansatz jetzt schon wählten und das minoische Kreta oder Hopewell nicht mehr nur als zufällige Schlaglöcher auf einem Weg betrachteten, der unvermeidlich zur Bildung von Staaten und Imperien führt, sondern als alternative Möglichkeiten, als Wege, die wir nicht eingeschlagen haben? – Diese Dinge hat es schließlich wirklich gegeben, auch wenn unser gewohnter Blick auf die Vergangenheit sie offenbar eher an den Rand als ins Zentrum rückt.


Buchvorstellungen


ARD – Videobeitrag in Titel, Tesen, Temperamente (6:17 Min.)



SWR2 – Interview mit David Wengrow (Audio, 23 Min.)



DLF Kultur – Audiobeitrag (6:20 Min.)



tanzschrift.at – Rezension


Siehe auch


David Graeber: Schulden – Die ersten 5000 Jahre