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Stéphane Hessel
Engagiert euch!

Stéphane Hessel im Gespräch mit Gilles Vanderpooten



Berlin 2011
(Ullstein); 64 Seiten; ISBN 978-3-550-08883-8
Übersetzt von Michael Kogon

Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel „Engagez-vous!“ bei Éditions de l'Aube

Siehe auch:
Empört euch!






Stéphane Hessel meldet sich erneut zu Wort: Nach „Empört Euch!“ folgt sein Aufruf zum Engagement für eine bessere Welt. Im Gespräch mit dem jungen Journalisten Gilles Vanderpooten vertieft der ehemalige Diplomat seine Vorstellung von einem engagierten Leben. Eine komplexer gewordene Welt, so Hessel, erfordert komplexe Strategien. Widerstand darf aber nicht nur im Kopf passieren. Wir müssen handeln, und zwar mit den Mitteln der Demokratie. Dazu gehören die Beteiligung an Protesten, internationale Zusammenarbeit sowie persönliches Engagement im Kleinen. Aber vor allem brauchen wir eines: den Glauben daran, dass unser bürgerliches Engagement die Welt verändern kann.


Stéphane Hessel


Sohn des Schriftstellers Franz Hessel, wurde 1917 in Berlin geboren. 1924 zog er mit seinen Eltern nach Paris; seit 1937 ist er französischer Staatsbürger. Ab Oktober 1945 war er Vertreter Frankreichs bei den Vereinten Nationen in New York, 1948 Mitunterzeichner der Charta der Menschenrechte.




Michael Kogon


der „Empört euch!“ auf Wunsch des Autors ins Deutsche übersetzt hat, ist Nationalökonom, Übersetzer, Autor und Mitherausgeber der Gesammelten Schriften seines Vaters, des Publizisten Eugen Kogon, der Stéphane Hessel im KZ Buchenwald das Leben rettete, indem er ihm zu einer neuen Identität verhalf.


Inhaltsverzeichnis


Widerstand heute
Von der liberalen zur nachhaltigen Entwicklungspolitik
Die Entstehung des Umweltbewusstseins
Umweltschutz und Politik
Krise und internationale Institutionen
Alternativen schaffen
Blick auf morgen
Von Generation zu Generation
Anhang:
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Fußnoten
Stéphane Hessel – Lebenslauf
Biographische Zeittafel


Leseprobe


Blick auf morgen






Gilles Vanderpooten: Über Ihre Zeit im Ressort für soziale Fragen des UNO-Wirtschafts- und Sozialrates haben Sie gesagt: »Das war vielleicht die ehrgeizigste Periode meines Lebens, mit dem bestimmten Gefühl, etwas für die Zukunft – wenn schon nicht für die Ewigkeit – zu leisten.« Wie stellten Sie sich damals die Zukunft vor, und wie stellen Sie sie sich heute vor?

Stéphane Hessel: Nach meinen Erfahrungen in deutschen Konzentrationslagern gab es für mich keine wichtigere politische Aufgabe als die Arbeit an den Menschenrechten. Meine Mitwirkung an der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erlebte ich als Teilnahme an einem ganz großen geschichtlichen Wurf, um jedem Menschen Grundrechte zu garantieren.

1945 ging es darum, die Menschheit von der schrecklichen Last des Totalitarismus, des Nationalsozialismus, des Faschismus zu befreien und hierfür die UNO-Mitgliedstaaten auf Rechte von universeller Geltung einzuschwören. Das Ziel war ungeheuer ehrgeizig. Die Länder des Südens, des Westens und des Ostens, des Okzidents und des Orients sollten sich auf einen Kodex von Werten, Freiheiten und allgemeinen Rechten einigen, auch wenn diese nicht unbedingt ihrer Tradition entsprachen. Es sollte ein Text entstehen, der den Kulturen aller Länder offenstand und kein Land schockierte. Dieses ehrgeizige Ziel wurde am 10. Dezember 1948 erreicht, als 48 Staaten im Pariser Palais de Chaillot für die Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stimmten. Da gab es nun auf einmal eine Weltorganisation und dazu einen Menschenrechtstext, der von sehr unterschiedlichen politischen Regimes verfasst worden war. Noch nie zuvor war von »Menschenrechten« im Weltmaßstab die Rede gewesen! Zum ersten Mal erschien vor unseren Augen die Weltgesellschaft als einheitliches, interdependentes und solidarisches Gebilde. Das war unerhört neu – auch dieses anspruchsvolle Adjektiv: universell. Ja, wir meinten die Gesamtheit der Frauen und Männer in aller Welt, ohne Ausnahme.

Ich will einige dieser Rechte zitieren. Artikel 13: »Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.« Artikel 16: »Heiratsfähige Männer und Frauen haben ... bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung gleiche Rechte.« Artikel 22: »Jeder hat ... das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, ... in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde ... unentbehrlich sind.« Artikel 25: »Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.«

Die Erklärung brachte die politische Landschaft gründlich durcheinander. Kolonialvölker beriefen sich auf sie in ihrem Unabhängigkeitskampf, und alle Verfassungen der neuen Staaten nehmen auf sie Bezug. In den vergangenen sechzig Jahren sind beträchtliche Fortschritte erzielt worden. Und dennoch, auch wenn diese Werte und Rechte uns heute als selbstverständlich und weithin anerkannt erscheinen mögen: Machen wir uns nichts vor. Sie wurden häufig missachtet, auch von den sogenannten demokratischen Ländern. Kein einziger Staat wendet sie uneingeschränkt an. Nehmen wir die Behandlung der Zuwanderer in Frankreich. Die Regierung gewährt ihnen nicht immer die Aufnahme, die sie verdienen würden. Himmelschreiend, was diese Regierung aus dem Asylrecht macht und wie sie mit illegalen Zuwanderern umgeht. Wir müssen uns zahlreich zusammentun, um gegen solche Verletzungen elementarer Rechte zu protestieren. Die Bürger kennen ihre zivilen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Rechte und können sie unter Berufung auf die staatlich sanktionierten Texte einfordern, insbesondere bei den Regierungen. Sie können protestieren, nicht zuletzt im Verbund mit Organisationen, die für die Verteidigung der Menschenrechte eintreten und inzwischen weltweit vernetzt sind – vor allem Amnesty International, Human Rights Watch oder die Internationale Menschenrechtsföderation (Fédération Internationale des Ligues des Droits de l'Homme – FIDH).

Eindrücklich, was erreicht worden ist – und ebenso, woran es noch fehlt!

Später habe ich begriffen, dass als politisches Ziel der Schutz der Natur mindestens ebenso wichtig ist wie die Wahrung der Menschenrechte. Für die Zukunft sehe ich demnach die Rechte der menschlichen Person und der Natur als gleichberechtigt nebeneinander. Da hat sich meine Wahrnehmung erweitert.

Ansonsten habe ich mich nicht wesentlich verändert. Ich bin immer noch relativ optimistisch in meinem Vertrauen, dass die kommenden Generationen ihre Probleme in den Griff bekommen können, und ich bin immer noch überzeugt, dass der menschliche Geist und das sittliche Bewusstsein noch ein weites Feld zu beackern haben. Jede Generation ist imstande, ihren Platz und ihre Verpflichtung im Sinne von Sartre zu finden, für den wahres Menschsein mit entschiedenem Engagement und Verantwortungsbewusstsein beginnt.