langelieder > Bücherliste > Levermann 2023




Anders Levermann
Die Faltung der Welt
Wie die Wissenschaft helfen kann, dem Wachstumsdilemma und der Klimakrise zu entkommen


Berlin 2023 (Ullstein); 270 Seiten; ISBN 978-3-550-20212-4






Unser Planet ist begrenzt, aber wir müssen uns weiterentwickeln, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Anders Levermann, Leiter der Komplexitätsforschung am Potsdamer Klimainstitut, schlägt einen Weg vor, der dieses Dilemma auflöst und ganz nebenbei die Ungleichheitsexplosion in unserer Gesellschaft zähmt.

Wir befinden uns am Ende des Zeitalters der Expansion – und wir brauchen eine Idee für den nächsten großen Schritt. Die Begrenztheit unserer Erde kollidiert mit der Notwendigkeit rasanter gesellschaftlicher Entwicklung. Wenn man akzeptiert, dass beides harte Realitäten sind, dann stehen wir vor einem Dilemma von Begrenztheit und Dynamik. Der verzweifelte, wenn auch verständliche Ruf nach Verzicht und Rückbesinnung löst dieses Dilemma nicht auf. Das mathematische Prinzip der Faltung könnte eine Lösung liefern, weil es unendliche Entwicklung in einer endlichen Welt erlaubt, sofern „Wachstum“ neu verstanden wird: nicht als Wachstum ins Mehr, sondern als Wachstum in die Diversität. Und zwar nicht theoretisch, sondern sehr praktisch – sei es beim europäischen Emissionshandel oder der Unternehmenssteuer.

»Ich kann jede und jeden verstehen, die oder der ein tiefes Misstrauen gegen den Kapitalismus und die Marktwirtschaft hegt. In seiner ungezügelten Form ist dieses System eines, das den Wettbewerb und damit vermeintlich die Leistungsfähigkeit über die Würde des Menschen stellt. Es gibt zahllose Regionen in der Welt und in diesen zahllose Gesellschaftsgruppen, die aufgrund der Marktwirtschaft in unwürdige Lebensbedingungen gezwungen werden. Das selbstverstärkende Wachstum des Kapitals zementiert die Wohlstandsdifferenzen und baut sie weiter aus. Der unbegrenzte Kapitalismus Kapitalismus schafft seine eigenen Tugenden ab. Exponentielles Wachstum vernichtet den Wettbewerb zwischen den Unternehmen. Exponentielles Wachstum von Privateigentum hat durch unbegrenztes Einkommen und Vererbung eine Schicht generiert, die außerhalb der übrigen Gesellschaft operiert. Gleichzeitig hat der exponentiell wachsende Rohstoffverbrauch einen globalen Klimawandel und ein unvorstellbares Artensterben verursacht. Dass Menschen aufgrund der Lage, in der wir uns global befinden, das Vertrauen in den Gedanken verloren haben, dass dieses System reformierbar ist, verstehe ich sehr gut.« (A. Levermann, Seite 246 f)

In diesem Buch werden folgende „Faltungsgrenzen“ diskutiert: Ende der Verbrennung fossiler Energieträger, Ende des Rohstoffabbaus, Begrenzung der Unternehmensgröße, Begrenzung des Erbes, Begrenzung des Einkommensunterschieds (
siehe unten).


Anders Levermann


geboren 1973 in Bremerhaven, studierte Physik in Marburg, Berlin und Kiel. 2002 wurde er in theoretischer Physik am Weizmann-Institut in Rehovot (Israel) promoviert. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, wo er die Abteilung Komplexitätsforschung leitet. Er ist Professor am physikalischen Institut der Universität Potsdam und forschte von 2015 bis 2023 an der Columbia University in New York. Seit 15 Jahren trägt er zu den Berichten des Weltklimarats IPCC bei.


Inhaltsverzeichnis


Prolog






1  Das Wachstumsdilemma






2  Das Prinzip der Selbstverstärkung



2.1  Das Prinzip
2.2  Skalen und Grenzen
2.3  Abgrenzung und Clusterbildung
2.4  Grenzen, an die wir stoßen






3  Die Faltungsgrenze des Klimas



3.1  Eiszeit und Warmzeit
3.2  Strahlungsbilanz und Treibhauseffekt
3.3  Kipppunkte und abrupte Übergänge
3.4  Was uns nicht droht
3.5  Was uns droht
3.6  Die Jetstream-Sorge
3.7  Die Freiheit unserer Kinder
3.8  Die Klimagrenze ist null






4  Die Richtung des Fortschritts



4.1  Das Gute am Wirtschaftswachstum
4.2  Die Wege, Selbstverstärkung zu begrenzen






5  Das Konzept der Faltung



5.1  Die mathematische Idee der Faltung
5.2  Sicherheit durch Chaos
5.3  Faltungsgrenzen
5.4  Faltung als Anpassung des Wertesystems
5.5  Faltungsgrenzen als Vision
5.6  Die beste Suchmaschine der Welt
5.7  Lösung des Dilemmas
5.8  Faltung als Wirtschaftsprinzip und Staatsräson






6  Die Faltung der Produktion: Grenzen und Innovation



6.1  Die Klimagrenze: Kein fossiler Kohlenstoff mehr
6.2  Kohlendioxid braucht eine Grenze und einen Preis
6.3  Faltung statt Verzicht
6.4  Die Lösung des Nachhaltigkeitsproblems






7  Die Faltung der Wirtschaft: Wettbewerb und Vielfalt



7.1  Too big to fail
7.2  Grenzen als Teil des Systems
7.3  Wachstum in die wirtschaftliche Vielfalt
7.4  Der Weg zur Wirtschaftsvielfalt






8  Die Faltung der Gesellschaft: Anreiz und Zusammenhalt



8.1  Vermögenspyramide und Herrschaftsturm
8.2  Selbstverstärkung der Immobilienvermögen
8.3  Explodierende Vermögen gefährden die Gesellschaft
8.4  Explodierende Vermögen durch Vererbung begrenzen
8.5  Die Verhältnismäßigkeit des Einkommens
8.6  Noch eine Grenze für Liebhaber: Ultra-Fast-Trading
8.7  Die Gesellschaft der Faltung






9  Der Weg der Einigung



9.1  Argumente für Kapitalisten
9.2  Argumente für Kommunisten
9.3  Argumente für die Nachhaltigkeit
9.4  Argumente für Pragmatiker
9.5  Worauf wir uns einigen können






Großer Dank, Literatur


Leseprobe


auf der Verlagsseite


Zitate


aus: Das Konzept der Faltung

Ein anpassungsfähiges Wesen, das sich auf eine Gefahr zubewegt, wird dieser ausweichen. Wenn es eine Wand ist, wird es eine Kurve einschlagen, um nicht gegen sie zu prallen. Es „faltet“ den Pfad, auf dem es sich befindet, seine Trajektorie – so der Begriff dafür in der Physik –, um sich weiter fortbewegen zu können. Das ist die Faltung. Sie entsteht immer dann, wenn ein System in einem begrenzten Raum nach freier Bewegung strebt. Die Anpassung der Bewegungsrichtung ermöglicht unendliche Entwicklung im begrenzten Raum; sie generiert dabei Vielfalt in der Bewegung, die ohne die Grenzen nicht entstünde, und schließlich bringt die Faltung Lösungen hervor, die ohne die Grenzen nicht gefunden würden. Drei Eigenschaften, die wir uns als Gesellschaft zunutze machen sollten. (S. 115)

Die Suche der Gesellschaft nach neuen Wegen innerhalb neu entstehender physischer oder moralischer Grenzen sollte nach dem Prinzip der Faltung (…) vonstattengehen.Es ist der freiheitlich-demokratische Weg, nach Neuem zu suchen. Dabei sind nur die Faltungsgrenzen fest – in dem Sinne, dass sie nicht einfach umgangen werden können. Innerhalb ihrer Abmessungen können alle anderen Grenzen und Regeln in einem gesellschaftlichen Prozess der Veränderung ständig angepasst werden. Das muss offen und transparent geschehen und darf nicht durch Korruption oder Absprachen in Hinterzimmern torpediert werden. (S. 139 f)

Es zeigt sich immer deutlicher, dass wir bestimmte explodierende Prozesse der Gegenwart neu begrenzen müssen, um ein Zerreißen unserer Gesellschaften und der Erde,auf der wir leben, zu verhindern. Diese neuen Grenzen dürfen unsere Freiheit nicht im Übermaß einschränken, und wir müssen dafür sorgen, dass wir dabei ohne händische Regelungen wie in der Planwirtschaft auskommen. Wir brauchen bestimmte neue Grenzen, die gefährliche selbstverstärkende Prozesse aushebeln, um damit unsere Gesellschaften auch in Zukunft zusammenzuhalten. Die genaue Umsetzung des Prinzips der Faltung ist natürlich zu diskutieren. Entscheidend sind die Einfachheit und Transparenz der Regeln, damit sie von der Gesellschaft getragen werden können. (S. 142 f)

Das Entscheidende ist, dass die Lösungswege nicht vorgegeben werden, sondern nur die Grenzen gesetzt werden, die das System nicht überschreiten darf. Das ist das Gegenteil von Planwirtschaft. (S. 145)


aus: Der Weg der Einigung
Seite 239 f:


Dieses Buch liefert keine praktischen Lösungen für eine neue Gesellschaftsordnung. Dafür sind die Umwälzungen, die ich hier beschreibe, zu grundlegend, das Buch zu kurz, und ich bin dafür nicht qualifiziert genug. Die praktischen Lösungen müssen aus einem demokratischen Prozess erwachsen, in dem sich die Expertise einiger und die ldeenvielfalt aller verbinden. Das Narrativ der Faltung kann hierbei helfen, der Kreativität Raum zu geben und sie zu beflügeln. Die Gesetze und Regeln müssen selbstverständlich von gewählten Vertretern der Bevölkerung, unterstützt mit Expertenwissen, erdacht, diskutiert und erarbeitet werden.

Mit dem Buch versuche ich ein Narrativ zu liefern, das den Wachstumsgedanken ersetzt, der seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten unser Denken prägt; heute aber durch einige Fehlentwicklungen und Auswüchse unsere Gesellschaft und unseren Planeten zerstört. Im Kern bedeutet der Wachstumsgedanke, dass unser Leben dann einen Sinn hat, wenn wir immer mehr anhäufen. Wenn das Haus, in dem wir leben, größer ist als das, in dem unsere Eltern gelebt haben. Das Wachstum ins Größer und Mehr zerstört unsere Erde und damit unsere Freiheit. Gleichzeitig hat sich das Wachstumsnarrativ als Antrieb für unseren Fortschritt lange Zeit bewährt. Es gibt also gute Gründe, es nicht leichtfertig aufzugeben, Das neue Narrativ kann das alte daher nicht einfach aufheben, indem wir uns bremsen, Eine Lebensphilosophie, die uns dazu veranlasst, uns morgens beim Aufstehen zu sagen „Es ist am besten, wenn ich heute möglichst nichts tue“ und auch ein „Heute erhalte ich das Leben, wie wir es kennen“, wird nicht funktionieren. Denn die Vernunft reicht als Antrieb allein nicht aus. Sie ist ein Steuer, kein Antrieb.

Das Dilemma, das es aufzulösen gilt, besteht darin, dass wir Möglichkeiten der Entwicklung und des Fortschritts brauchen, die ohne Zerstörung auskommen. Diese Lösung bedarf tatsächlich eines neuen Gedankens. Der Gedanke der Faltung ist an sich nicht neu. Er existiert bereits in vielen Bereichen unseres Lebens. In der Kunst und Kultur geschieht Entwicklung seit Jahrtausenden nach dem Prinzip der Faltung, in der Physik und Mathematik seit Jahrhunderten, und auch in der Wirtschaft kommt es vielfach zum Tragen, ohne dass das so benannt wird. Es ist auch nicht auszuschließen, dass jemand diesen Gedanken bereits ähnlich formuliert hat, Sicher ist aber, dass der Gedanke noch keine gesellschaftliche Breite erreicht hat.

Es wäre gut, davon bin ich überzeugt, wenn wir uns auf dieses neue Narrativ einigen könnten. Die Faltung ist etwas, auf das sich vernünftige Kommunisten mit vernünftigen Kapitalisten zusammen mit vernünftig ökologisch denkenden Menschen einigen können, und dabei können auch die reinen Pragmatiker überzeugt werden.






Seite 260 ff:

Ich lade Sie ein, sich eine Welt vorzustellen, in der wir uns zusätzlich zu den in vielen Staatsverfassungen verankerten Menschenrechten auf fünf neue Faltungsgrenzen geeinigt haben:

1.
Ende der Verbrennung fossiler Energieträger: Um das Pariser Klimaabkommen, auf das sich 195 Staaten geeinigt haben, einzuhalten, müssen CO2-Emissionen weltweit innerhalb der nächsten zwanzig Jahre auf null heruntergefahren werden.

2.
Ende des Rohstoffabbaus: Unser Planet ist endlich, und daher dürfen wir ihm irgendwann keine weiteren Rohstoffe mehr entnommen werden.

3.
Begrenzung der Unternehmensgröße: Der Souverän eines Landes ist die Bevölkerung. Es gilt das Primat der Politik über die Wirtschaft, und deshalb darf kein Unternehmen größer und mächtiger werden als die Länder, in denen es operiert.

4.
Begrenzung des Erbes: Die Menschen sollten möglichst chancengleich in das Leben starten, deshalb muss das Erbe, das an eine Person geht, begrenzt sein. Es geht hierbei ausschließlich um das Verhindern des Vererbens von großem Reichtum.

5.
Begrenzung des Einkommensunterschieds: Die Grundlage unseres Zusammenlebens ist die Existenz einer gemeinsamen Gesellschaft. Um die Gleichheit vor dem Gesetz und bei der Wahl zu gewährleisten, sollte das Verhältnis der Einkommen begrenzt sein. Es geht hierbei nicht um das Verhindern von Reichtum, sondern um das Verhindern eines Auseinanderreißens unserer Gesellschaft.

Anders als viele andere größere und kleinere Grenzen, die wir unserem Handeln in Form von Regeln und Gesetzen geben, beschreiben diese Faltungsgrenzen eine Vision: Sie lenken alle individuellen, unternehmerischen und politischen Entwicklungen auf das Ziel einer nachhaltigen Zukunft, in der wir nicht nur ökologisch, sondern auch sozial und ökonomisch erhalten und sogar steigern können, was wir an Wohlstand in Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden errungen haben. (…) Wir werden neu definieren, was wir als Wohlstand empfinden. Entscheidend ist, dass diese Neuorientierung nicht vorgegeben ist, sondern sich frei entfalten kann. Es werden nur die Grenzen vorgegeben, die unser Zusammenleben gefährden.


Siehe auch


Aufzeichnung der MOSSE LECTURE von Anders Levermann am 13. Juli 2023 an der Humboldt-Universität zu Berlin
Titel: »Die Faltung der Welt: ein freiheitlicher Weg aus Klimakrise und Wachstumsdilemma«
https://youtu.be/jVEt7cDGOv4






als Podcast (nur Vortrag, ohne die anschließenden Publikumsfragen) im Deutschlandfunk:
https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/wirtschaftswachstum-trotz-klimaschutz-ist-das-moeglich



Download-Adresse:
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2023/08/25/deutschlandfunknova_wirtschaftswachstum_trotz_20230825_5820a44a.mp3





Deutschlandfunk: „Zwischentöne“ am 22. November 2022 (Gespräch, 70 Min.)
https://www.deutschlandfunk.de/zwischentoene-mit-anders-levermann-vom-20-11-2022-musik-gekuerzt-dlf-21fef06d-100.html






Talks, Interviews & Articles
https://www.pik-potsdam.de/~anders/media.html