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Der Anthropologe
Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel räumen mit
Missverständnissen über die Evolution und die
menschliche Natur auf und zeigen, welche Macht die Kultur über
uns besitzt. Die Autoren liefern das Wissen, um die Welt so zu
gestalten, dass in Zukunft wirkliches Menschsein möglich ist
und erklären, wie es dazu kommen konnte, dass wir eine
Existenz im Ausnahmezustand führen. Denn etwas stimmt mit
dem Leben nicht. Jeder kennt das Gefühl. Depressionen und
Angststörungen grassieren. Krisen, Kriege und Katastrophen
dominieren die Nachrichten. Die längste Zeit redete die
Kirche uns ein, es läge an der menschlichen Sündhaftigkeit.
Heute hält uns eine ganze Ratgeberindustrie auf der
Anklagebank und verordnet Selbstoptimierung, Achtsamkeit und
Resilienztraining. Höchste Zeit für eine evolutionäre
Aufklärung. Wir sind nicht schuld. Wir müssen uns nur
endlich selbst verstehen!
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Zitate
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S.
326
Wir leben nicht mehr in den Gruppen der Jäger
und Sammler, wo jeder jeden kannte. Keine Frage, in den anonymen
und heterogenen Massengesellschaften von heute ist gerechte
politische Willensbildung alles andere als einfach. Entsprechend
lebhaft sind die Diskussionen um die Zukunft der Demokratie. Doch
die tatsächliche Problematik gründet tiefer.
Sie
zeigt sich in der evolutionären Perspektive: Aufklärung
und Emanzipation waren unvollständig, mehr noch, sie sind
auf einen Holzweg geraten. Sie rehabilitierten zwar dem Prinzip
nach die Teilhabe aller an der politischen Entscheidungsfindung
(auch wenn da wiederholt nachgebessert werden musste), aber sie
versäumte es, die eigentliche mit dem Sesshaftwerden in die
Welt getretene Sünde zu eliminieren: die Möglichkeit,
übermäßig Eigentum anzuhäufen.
Das
ist der Kardinalfehler: Die demokratischen Bewegungen der
Vergangenheit haben nicht die alte Gerechtigkeit
wiederhergestellt. Sie haben zwar die traditionelle –
sichtbare – Herrschaft beseitigt, nicht aber die
unsichtbare des Eigentums. Insofern blieb das Spiel des Lebens
weiterhin eines mit gezinkten Karten: Einige wenige haben qua
Zufall der Geburt alle Trümpfe in der Hand; den vielen
dagegen bleibt qua Zufall der Geburt nur das Nachsehen.
S.
329 f
(…) Insofern haben die Aufklärung
und die mit ihr einhergehenden bürgerlichen Revolutionen nur
versucht, die eine Hälfte der Ungerechtigkeitsfaktoren aus
dem Weg zu räumen: die undemokratische Herrschaft. Die
andere Hälfte aber, die undemokratische Vermögens- und
Machtverteilung, blieb unangetastet. Die Revolutionen haben zwar
zur Abschaffung der Adelsprivilegien geführt, aber
konservierten die Eigentumsprivilegien. Sie wurden sogar zum
unantastbaren Menschenrecht geadelt. Seither kann man sich eine
Welt ohne sie kaum mehr vorstellen.
Der Schutz des
Eigentums sollte die Menschen gegen die Willkür der
Herrscher und des Staates schützen – doch dieser Akt
normalisierte damit auch bestehende Reichtümer und wusch all
die Vermögen von ihrer vielfach zweifelhaften Herkunft rein.
Die des Adels stammten aus der Ausbeutung der einfachen Menschen
über Generationen, und die Vermögen der Industriellen
Revolution verdanken sich der Ausbeutung der Arbeiter und
Sklaven, der Kolonien und der Natur. Indem Besitz zum
Menschenrecht erklärt wurde, wurde die Enteignung der
Besitzlosen zementiert. Einmal mehr ist das mächtigste
Legitimationsinstrument der Ungleichheit zu beobachten: die
Normalität. Dem Besitz ist es gelungen, sich selbst als
historische Ausnahmeerscheinung unsichtbar zu machen – und
so zu tun, als sei er Teil der Conditio humana.
Man war
blind für die daraus erwachsende Unfairness der
Lebenschancen, die über Generationen hinweg vererbt wurde.
Im Gegenteil: Lange dominierten im Westen Zensuswahlrechte, die
den Stimmen der Reichen mehr Gewicht beimaßen (und
Nichtbesitzende ausschlossen, um von Frauen gar nicht zu reden).
Die Aristokratie wechselte also nur das Medium: Nicht mehr das
Blut, die Verwandtschaftslinie war entscheidend, sondern das
Geld, das Erbe. Es entschied über die Fitness der
Individuen. Eine rein kulturelle Erfindung übernahm das
Ruder. Die neue Aristokratie ist eine Plutokratie.
Chancengleichheit bleibt unter diesen Bedingungen eine Farce.
S.
331
(…) Da ohne evolutionäre Aufklärung
Gesellschaften stets zur Kulturblindheit neigen und ihre
Lebensumstände als Normalität verklären, folgen
daraus die typischen Schuldzuweisungen. Wieder einmal wird den
Opfern, den Verlierern dieses unfairen Spiels die Schuld
zugewiesen. Solche Narrative sicherten seit dem Aufkommen des
Kapitalismus den Status quo ideologisch ab. (…) Die Armen
haben (…) entweder Pech, weil sie nicht von Gott
auserwählt waren, oder sie waren wegen ihrer Sündhaftigkeit
selbst schuld. (…) Die Armen sind arm, weil sie faul,
disziplinlos, primitiv oder genetisch mangelhaft sind (das alles
wurde ihnen vorgeworfen). Dabei entstand Reichtum vor allem dort,
wo Reichtum vorhanden war, und jene anderen hatten schlicht keine
Chance im Wettbewerb. Bitter, wenn ihnen dieses Pech noch als
Stigma auferlegt wird.
Und schließlich ist da das
bereits erwähnte Mephisto-Prinzip, das mit dem Namen Adam
Smith verbunden ist, demzufolge das freie Ausleben des
wirtschaftlichen Egoismus, die ungehemmte Entfaltung der
Marktkräfte wie mit unsichtbarer Hand zum Wohle aller wirke
und grenzenloses Wachstum ermögliche. Abgerundet wurde das
von jenem Mythos, der versprach, der Weg zum Reichtum stünde
jedem offen. Hauptsache, man strengt sich nur genügend an
und ist sich für nichts zu schade. Dadurch konnte man
ruhigen Gewissens seinem Egoismus freien Lauf lassen, da das ja
letztlich auch den Armen helfe.
S.
332
(…) Und hier wird es geradezu skurril,
kommt an dieser Stelle doch der Missbrauch der Evolution ins
Spiel. Der evolutionistische Sozialdarwinismus, der behauptete,
dass das unbedingte Recht des Stärkeren den Fortschritt
voranbrachte, avancierte zur Ideologie des Kapitalismus –
und ist das mitunter noch heute.
S.
340
(…) Wir müssen den in die Irre
führenden Freiheitsmythos korrigieren. Unsere Jäger-
und Sammler-Vorfahren waren frei in dem Sinne, dass sie keine
Herrschaft über sich duldeten und sich vor niemandem
verbeugen mussten. (…) Sie waren aber nicht frei in dem
Sinne, dass jeder Einzelne tun konnte, was er oder sie wollte,
ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit. (…) Diese Art
von Freiheit, die das Individuum isoliert über alles stellt,
ist eine Erfindung des Kapitalismus und die Grundvoraussetzung
der grenzenlosen Bereicherung. Zu diesem kapitalistischen
Narrativ gehört die stete Betonung der individuellen Rechte,
die mit einer Zurückweisung der Pflichten gegenüber der
Gesellschaft einhergeht. Viel zu lange berief man sich dabei auf
das angeblich in der Evolution begründete Recht des
Stärkeren. Doch da würden unsere hypersozialen
Vorfahren aus dem Stauenen nicht herauskommen. Das Wissen, dass
niemand allein überleben kann, war die Grundessenz ihrer
Existenz.
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