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Vine Deloria
Nur Stämme werden überleben




Göttingen 1996 (Lamuv); 144 Seiten; ISBN-10: 3-88977-427-X (Neuauflage)
Aus dem amerikanischen Englisch von der Arbeitsgruppe für nordamerikanische Indianer und Ursula Wolf
Herausgegeben von Claus Biegert und Carl-Ludwig Reichert
Originaltitel: We Talk, You Listen – New Tribes, New Turf, New York 1970
Deutsche Erstausgabe: Nur Stämme werden überleben. Indianische Vorschläge für eine Radikalkur des wildgewordenen Westens, München 1976 (Trikont)






»Wir befinden uns gerade mitten in einem Prozeß der Wiederbildung von Stämmen, ob wir es wollen oder nicht. Genau wie unsere Vorfahren in ihren Stämmen sind wir Objekte einer Welt, die wir nicht verstehen, keine Subjekte mehr, die eine Welt zum Ausbeuten besitzen. Durch unsere Technologie haben wir die althergebrachte religiöse und politische Auffassung des Menschen als des Schmiedes seines Schicksals auf den Kopf gestellt. Und anstelle einer willkürlichen Natur fürchten wir jetzt die Willkür der Technik und eine teilnahmslose, unmenschliche Wissenschaft.« (S. 66)




Vine Deloria


»Vine Deloria Jr. wurde am 26. März 1933 in der Präriesiedlung Martin, South Dakota, geboren und wuchs auf dem Reservat der Standing Rock Sioux auf, wo sein Vater der Episcopalkirche vorstand. Der Familienname soll von einem französischen Trapper namens De Lauriers stammen, der von den Sioux Ende des 18. Jahrhunderts in den Stamm aufgenommen worden war. Nach seiner Militärzeit bei der Marine studierte Vine Jr. Theologie und Jura und machte sich bald einen Namen als Korrektor der herrschenden Geschichtsschreibung und Zerstörer von Mythen. Während er historische und kulturelle Mythen der weißen Welt zerlegte, widmete er sich mit Sorgfalt jenen seines Volkes. „Wir haben den Weißen Mann in 500 Jahren ganz schön weit gebracht, von der kindischen Suche nach Jungbrunnen und Städten aus Gold bis zu der Einsicht, dass die Unversehrtheit des Landes Voraussetzung für die menschliche Existenz ist,“ schrieb er 1976 in der New York Times. – Wenn er nicht lehrte, schrieb er: Er lehrte an der University of Arizona in Tucson, später ging er an die University of Colorado nach Denver; dazwischen schrieb er über 20 Bücher. In „God is Red“ argumentierte er, dass indianische Spiritualität mehr auf die Bewahrung der Schöpfung ausgerichtet sei, als die christlichen Kirchen, in „We Talk, You Listen“ sieht er eine Rückkehr zu Stammesstrukturen und deren Werte als einzigen Ausweg für die Industriegesellschaft. In „Metaphysics of Modern Existence“ durchleuchtet er unsere aufgeklärte Kultur, in „Red Earth, White Lies“ stellt er die Archäologie der dominanten Gesellschaft auf den Kopf. Immer war seine Provokation in großartigen Sprachstil gewandet und von Humor durchsetzt.« (Aus einem Nachruf von Claus Biegert) – Vine Deloria starb am 13. November 2005.

»Vine Deloria jr. passt in kein Indianerbild: Unscheinbar gekleidet, der Sprache der Weißen mächtiger als viele Weiße, agiert er zwischen Hörsaal und Schreibtisch und schockt jene, die sich an seiner westlichen Erscheinung erfreuen, mit polemischen Reden und Schriften gegen das System. Als Akademiker (Jurist und Theologe) und Stammesmensch (Oglala-Lakota) ist er in beiden Amerikas zuhause und entkam bisher allen Klischees. Obwohl er darauf bedacht ist, konservativen Historikern und Ethnologen nicht zu nahe zu kommen, wird er von ihnen zitiert. Über weiße Wissenschaftsgläubigkeit und gehorsamen Respekt vor dem Professorenstuhl amüsiert er sich, sobald die Sprache darauf kommt. Seit Ende der sechziger Jahre nimmt er schreibend am Widerstandskampf der Ureinwohner teil. Neben juristischer Hilfestellung bei politischen Prozessen gilt sein spezielles Interesse den verfassungsrechtlichen Aspekten und Konsequenzen, die sich für die indianische Seite aus Vertragsabschlüssen mit der US-Regierung ergeben, vor allem hinsichtlich einer völkerrechtlichen Anerkennung existenter und souveräner indianischer Nationen. Kritiker verurteilen seine Zurückhaltung gegenüber indianischen Protestaktionen, doch dringt er mit seiner Arbeit in die Medien und Gerichte und unterstützt die Bewegung so auf seine, eine nicht minder notwendige und wirkungsvolle Weise.« (Biografische Notiz in „Gott ist rot“)


Inhaltsverzeichnis


Vorbemerkung der Herausgeber



Einleitung



Die Klischeevorstellungen vom Indiander



Red Power und Souveränität



Eine neue Mythologie der Schöpfung



Die Bedeutung von Stämmen



Der neue Individualismus



Indianisches Land schaffen



Die Erneuerung der Stämme



Auf die alten Wege vertrauen



Ausblick auf die Zukunft


Leseprobe


Vorbemerkung der Herausgeber


Vine Deloria jr. war einer der ersten nichtangepaßten Indianer mit akademischer Ausbildung (Jurist), dessen Veröffentlichungen im weißen wie im roten Amerika gleichermaßen Aufsehen erregten. Sein Buch Custer Died for Your Sins, das 1969 erschien, wurde zu einem Bestseller und markierte den Einstieg von Indianern in die politische Minderheitendiskussion.

Wichtiger als die breite Anerkennung der liberalen Presse war dabei die Auslösefunktion für ein neues indianisches Bewußtsein, wesentlich unterstützt durch die musikalische Umsetzung der Thesen des Buches in Protestlieder, die der Sioux-Sänger Floyd Westerman auf einer gleichnamigen Platte verbreitete.

Selber kein politischer Aktivist, brachte Deloria aus hinreichender eigener Kenntnis der indianischen Situation zumindest großes Verständnis für den Aktivismus auf und billigte ihn in vielen Fällen ausdrücklich. In der innerindianischen Diskussion nahm er oft eine bewußt vermittelnde Position ein, um eine breite Basis des indianischen Widerstands zu schaffen. Vor allem seit den Ereignissen von Wounded Knee 1973 stand er Methoden und Zielen des American Indian Movement (AIM) zunehmend positiv gegenüber. Neben juristischer Hilfestellung bei zahlreichen Anlässen gilt sein spezielles Interesse den verfassungsrechtlichen Aspekten und Konsequenzen, die sich für die indianische Seite aus Vertragsabschlüssen mit der US-Regierung ergeben, vor allem hinsichtlich einer völkerrechtlichen Anerkennung existenter und souveräner indianischer Nationen.

Sein Konzept einer mehrdimensionalen Strategie, das die Auseinandersetzung mit Institutionen wie Bureau of Indian Affairs (BIA) und konventionellen indianischen Organisationen wie National Congress of American Indians (NCAI) noch nicht für unentbehrlich hält, hat manchmal Skepsis bei militanten Indianern hervorgerufen.

Trotzdem ist seine Bedeutung als Sprecher und Repräsentant eines wesentlichen Teils der politisch bewußtgewordenen und um Selbstbestimmung und Souveränität kämpfenden Indianer im Widerstand unbestritten. Dies zeigt nicht zuletzt die regelmäßige Veröffentlichung gewichtiger Beiträge und Stellungnahmen Delorias in der panindianischen Zeitschrift Akwesasne Notes (AN).

Vine Deloria jr. ist ein eloquenter und witziger Kritiker des zivilisatorischen Syndroms der amerikanischen Gesellschaft, der sich rationaler wie polemischer Mittel zum Zweck der Diagnose bedient. Seine Thesen und Vorschläge zur Radikalkur westlichen Bewußtseins sind starke und manchmal bittere Medizin auch für die Linke im Westen und werden hier in repräsentativer Auswahl zur Diskussion gestellt.

Es hat fünf Jahre gedauert, bis dieses Buch (Originaltitel: We Talk, You Listen – New Turf, New Tribes) hier erstmals veröffentlicht werden konnte. Das hat unserer Meinung nach Kürzungen nötig gemacht, vor allem in Passagen, die sich ausführlich mit Vorgängen der damaligen amerikanischen Innenpolitik beschäftigten. Einzelne Kapitel sind gestrafft worden. Hinzu kamen Die Bedeutung von Stämmen, entnommen aus Custer Died for Your Sins, sowie zwei Interviews und ein Beitrag Delorias zur aktuellen Situation.

Die Anmerkungen und Materialien am Schluß eines jeden Kapitels stammen von den Herausgebern, sind als Anregungen gedacht und sollen das Verständnis erleichtern.

Claus Biegert
Carl-Ludwig Reichert




Einleitung


So manches Mal bin ich von der Denkweise der »Nicht-Indianer« beeindruckt. 1969 war ich in Cleveland und kam mit einem »Nicht-Indianer« in ein Gespräch über amerikanische Geschichte. Er sagte, es täte ihm wirklich leid, was den Indianern geschehen sei, daß es aber seinen guten Grund hätte. Der Kontinent müßte entwickelt werden, die Indianer ständen im Wege und müßten infolgedessen beseitigt werden. »Was habt ihr überhaupt mit dem Land getan, nachdem ihr es in Besitz genommen hattet?« fragte er. Ich verstand ihn erst nicht. Später dann entdeckte ich, daß der Fluß Cuyahoga, der durch Cleveland fließt, leicht entzündbar ist. Täglich werden in den Fluß soviel entzündbare Abfallstoffe geleitet, daß die Anwohner im Sommer extra Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen, um einen plötzlichen Brand zu verhindern. Ich dachte über das Argument meines »nicht-indianischen« Freundes nach und fand, daß er wahrscheinlich recht hatte: Die Weißen hatten das Land besser genutzt. Kein Indianer hätte die Idee gehabt, einen entzündbaren Fluß zu schaffen!

Vor 125 Jahren brachen die Weißen den mit den Sioux eingegangenen Vertrag von Fort Laramie, um nach Gold in den Black Hills graben zu können. Sie brachten das Gold aus den Black Hills nach Fort Knox, Kentucky, um es dort wieder zu begraben. Im ganzen Mittelwesten wurden die Indianer von ihrem Land verjagt, weil die Weißen dachten, sie nützten ihr Land nicht genug aus. Heute liegt der größte Teil des Landes brach, und die Besitzer erhalten Geld von der Regierung, damit nichts angepflanzt wird. Man zerstörte die Wildnis, weil niemand dort lebte, und baute Städte, in denen niemand leben konnte.

1969 veröffentlichte eine gelehrte Anthropologin eine Abhandlung, in der die Trinksucht der Indianer mit einer Identitätskrise begründet wird. Jeder, der je einen Indianer traf, würde über diese absurde Idee lachen. Das Umgekehrte ist nämlich der Fall. Von jedem Indianer wird man zuerst nach dem Namen, dann nach dem Stamm gefragt. Manchmal wird man danach zu einem Drink eingeladen. Das Trinken ist die Bestätigung einer Freundschaft, deren Bestehen auf der Tatsache beruht, daß man einem bestimmten Stamm angehört. Um der Beschreibung der Anthropologin gerecht zu werden, ginge es andersrum: Wir müßten uns zuerst völlig besaufen, danach den Stamm aussuchen, zu dem wir gehören wollen, und uns schließlich für einen Namen entscheiden.

All dies veranlaßt mich, nach einer klareren Unterscheidung zwischen Temperament, Lebensweise und Philosophie der Indianer und »Nicht-Indianer« zu suchen. Das ist schwierig, denn die »Nicht-Indianer« sind die Nachkommen einer besonderen Gruppe Menschen. Ihre Vorfahren dachten, sie segelten bis zum Ende der Welt, und hätten das auch getan, wenn wir sie nicht an Land gezogen hätten. Ihre Nachfolger verschwendeten mit jahrelangen Reisen auf der Suche nach dem Brunnen der Jugend und den Sieben Städten aus Gold viel Zeit. Bei ihrer Ankunft wußten sie nicht einmal, wie man eine einzige Stange Mais pflanzt. Der »Nicht-Indianer« glaubt beharrlich an seine Ideen und ändert sich selten.

Es geschieht heute viel, das mit den Ideen, Bewegungen und Vorfällen im Lande der Indianer in Verbindung gebracht werden kann – so viel, daß man bei näherer Betrachtung stutzt. Ohne es zu merken, wird die amerikanische Gesellschaft indianisch. Stimmungen, Ansichten und Wertmaßstäbe ändern sich. Trotz der Vergötterung des rauhen Individuums, das niemanden braucht, werden sich die Menschen ihrer Isolation immer häufiger bewußt. Der selbstgenügsame Mensch sucht nach einer Gemeinschaft, die er als die seine bezeichnen kann. Die schillernden Verallgemeinerungen und Mythologien der amerikanischen Gesellschaft sättigen nicht mehr den Drang und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit.

Kommunikation erweist sich als eine fast unüberwindliche Aufgabe. Man kann nicht so einfach von der Stammeslebensweise in die Ideenwelt der »Nicht-Stammesmenschen« überwechseln. Der »Nicht-Stammesmensch« denkt mit einer linearen Logik, in der B und C auf A folgen. Wert und Bedeutung des ganzen Geschehens werden vom »Nicht-Stammesmenschen« selten verstanden, obwohl er durch seine Logik vielleicht genauere Informationen über die Sachlage erhält. Er kann den Abstand zum Mond mit unbeirrbarer Genauigkeit messen, der Mond bleibt jedoch ein neutrales Objekt ohne persönliche Beziehung, die die innersten Gefühle unterstützen und hervorheben würde.

Die Stammesgesellschaft ist von solcher Natur, daß man sie von innen heraus erfahren muß. Sie ist ganzheitlich-logische Analyse, führt ohne dazugewonnene Erfahrung zum Ausgangspunkt zurück. Das Leben in einer Stammesgemeinschaft ist so wohldurchdacht und behaglich, daß es fast wie eine Droge wirkt. Der Mensch, der mit Gewalt aus diesem System herausgenommen wird, wird reizbar und einsam. Er sehnt sich verzweifelt nach einer Rückkehr zum Stamm, manchmal nur, um seinen gesunden Verstand zu bewahren. Zwar lebt die Mehrheit der Indianer heute in den Städten, doch sind ziemlich viele von ihnen lange Wochenenden auf dem Reservat, um kostbare Stunden auf ihrem eigenen Land mit ihren Leuten zu verbringen.

Die beste Methode, indianische Werte verständlich zu machen, ist die, Punkte zu finden, in denen Streitfragen sich überschneiden. Da das Gefüge der Stammesgemeinschaft auf ein Zentrum hin ausgerichtet ist und die »nicht-indianische« Gesellschaft sich an linearer Entwicklung orientiert, könnte man diesen Prozeß mit einem Kreis mit Tangenten vergleichen. Die Punkte, wo die Linien den Umfang des Kreises berühren, sind die Streitfragen und Ideen, die Indianer mit anderen Gruppen teilen. Es gibt viele solcher Punkte. Sie können als Fenster betrachtet werden, durch die Indianer und »Nicht-Indianer« sich sehen können. Ist dieses Muster angewandt und verstanden, kann der »Nicht-Indianer«, indem er sich stammesgemäßer Betrachtungsweise bedient, sich selbst und seine Beziehung zu den Indianern besser verstehen.

Das Problem wird durch die Geschwindigkeit moderner Kommunikationsmittel komplizierter. Sie überschwemmen uns mit Nachrichten, die Nachrichten sind, weil sie als Nachrichten berichtet werden. Bei einer linearen Weltanschauung erweckt die Folge spektakulärer Ereignisse den Eindruck, mit der Welt gehe es entweder bergauf oder bergab. Ereignisse werden wegen ihrer bekräftigenden oder drohenden Aspekte, nicht aber wegen ihrer wirklichen Bedeutung beachtet, da sie selbst keine Interpretationsmöglichkeiten enthalten. Wenn wir unfähig sind, die Ereignisse, die durch die Medien berichtet werden, in uns aufzunehmen, stützen wir unsere Interpretation über den Sinn der Welt eher auf das, was uns gelehrt wurde, als auf das, was wir selbst erfahren haben.

Die Indianer unterliegen der Informationsflut genau wie andere Leute. In den sechziger Jahren sind die meisten Reservate in die Reichweite von Fernsehen und Computer gekommen.

In vieler Hinsicht werden Indianer, wie jede andere Gruppe auch, von der elektrischen Natur unseres Universums beeinflußt. Aber die Anschauungen des Stammes nehmen sofort auf, was berichtet wurde, und integrieren es in die Erfahrung der Gruppe. Vielerorts werden die Weißen nur als eine vorübergehende Erscheinung betrachtet, und es besteht der unerschütterliche Glaube, daß der Stamm die Herrschaft des weißen Mannes überleben und den Kontinent wieder beherrschen wird. Indianer saugen die Welt auf wie ein Fließblatt und führen ein von äußeren Ereignissen unberührtes Leben. Je gründlicher das geschieht, desto besser scheint der Stamm zu funktionieren und stärker zu werden. Von allen Gruppen in der modernen Welt sind die Indianer am besten gerüstet, mit neuartigen Situationen fertig zu werden.

Die »nicht-indianische« Welt jedoch ist der Ansicht, daß Indianer zu nichts fähig sind. Es ist die Flexibilität der stammesmäßigen Weltanschauung, die Indianern ermöglicht, verheerenden Situationen gelassen gegenüberzutreten und sie zu überleben. Aber gerade diese Flexibilität wird von »Nicht-Indianern« als Unfähigkeit gewertet; das hat zur Folge, daß der »Nicht-Indianer« in Einsamkeit und Verzweiflung draufloskämpft und den Indianer wegen seiner Nichtanteilnahme verwünscht.

1969 begannen »Nicht-Indianer« die Indianer wieder zu entdecken. Wir wurden von allen als natürliche Verbündete im uralten Kampf gegen die »bösen Mächte« gepriesen. Konservative umarmten uns, weil wir uns weder hochmütig benahmen noch in ihre Nachbarschaft zogen und auch nicht durch ihre Straßen marschierten. Die Liberalen liebten uns, weil wir das unterdrückteste aller unterdrückten Völker waren und außerdem zumeist demokratisch wählten. Die Schwarzen mochten uns, weil wir gegen die Politik des Innenministeriums waren. (wir wären sogar dagegen, wenn wir das verdammte Ding selber erfunden hätten), was darauf hinzuweisen schien, daß wir eine weitere Gruppe wären, mit der man bei der kommenden Revolution rechnen konnte.

Im Herbst 1969 war ich auf einer Konferenz, wo eine Anzahl wütender Militanter ihre Meinung über die kommende Revolte vortrugen. Mit fieberndem Eifer beschrieben sie die »Schlacht von Armaggeddon«, in der die »Schweine« besiegt und die Schwachen die Welt (oder ein ansehnliches Faksimile davon) erben würden. Als man einen alten Sioux fragte, ob er denn den Sturz der Regierung unterstütze, antwortete er: »Nicht eher, als bis wir für die Black Hills bezahlt worden sind.« Ich muß kaum noch betonen, daß jene Revolutionäre von der indianischen Begeisterung für radikale Änderungen nicht besonders beeindruckt waren.

Hippies zeigten uns stolz ihre Perlen und grüßten mit wissendem Lächeln und ein paar Brocken Navaho, das sie auf ihrer Reise durch Arizona gelernt hatten. Wir sahen verwundert zu, als sie befedert und in Wildleder gekleidet Revue passierten, sorgsam darauf bedacht, eine Rolle zu spielen, die sie selbst nicht ganz verstehen konnten. Als die Indianer Alcatraz besetzten, kamen die Hippies in Schwärmen zur Insel und suchten den Horizont Zoll für Zoll nach einer Vision des Menschen im vormaligen Naturzustand ab. Als sie herausfanden, daß die Stammesmenschen die gleichen Organisationsprobleme hatten wie andere Gruppen auch, zogen sie ab, enttäuscht und ernüchtert von einem Indianertum, das nur in ihrer Vorstellung existiert hatte.

Fast ein Jahr lang versuchten die unterschiedlichen Minoritäten und Machtgruppen, Indianer für die sozialen Krisen, die das Land heimsuchen, zu interessieren. Die Kirchen gaben Riesensummen für die Bildung von »Sonderkommissionen« aus. Bestehend aus »unabhängigen« Indianern, sollten sie über indianische Probleme im gesamten Bereich der Nation informieren. Man war enttäuscht, als die Indianer nicht sofort Gewaltmaßnahmen als Mittel zur Besserung vorschlugen.

Regierungsangestellte versuchten, Indianer innerhalb des städtischen Zusammenhangs zu verstehen, ein Zusammenhang, der sogar dem unentwegtesten Städter nichts mehr bringt.

Konservative suchten uns des öfteren auf, um uns unser mystisches Wissen über die Bebauung des Landes zu entreißen.

Zweifellos gibt es eine große Krise. Ich glaube jedoch, daß die Ursachen tiefer liegen als Worte wie Rassismus, Gewalttätigkeit oder wirtschaftliche Verelendung andeuten.

Die philosophischen Konzepte der amerikanischen Gesellschaft ändern sich von Grund auf. Worte werden ihrer alten Bedeutung beraubt, und neue Worte füllen das Vakuum. Rassenkämpfe, Inflation, Umweltverschmutzung und die Bildung von Machtgruppen sind Symbole einer neuen Anschauung vom Menschen und seiner Gesellschaft. Das heutige Denken löst sich vom Konzept der Autonomie des Individuums und sucht nach einer neuen, vorerst noch nicht genau bestimmten Definition des Menschen als Mitglied einer spezifischen Gruppe.

Das ist ein extrem schwieriges Übergangsstadium für jede Gesellschaft. Anstatt die Situation klar zu erkennen, hat man es aber vorgezogen, soziale Probleme als Ausdruck einer Kluft zwischen bestimmten Elementen der nationalen Gemeinschaft zu sehen. Offensichtlichstes Beispiel für diese Haltung ist das Gerede über den sogenannten Generationskonflikt. Zu anderen Zeiten wird dieselbe Sache als Rassenproblem dargestellt – die weiße, rassistische Machtstruktur gegen die unschuldigen, friedliebenden Minderheiten. Wir wissen, daß das falsch ist.

Die Schwarzen waren in den von ihnen verantworteten Programmen nicht weniger rassistisch gegen die Indianer als die Weißen gegen sie selbst. Hinter jeder Bewegung taucht die Gruppe als bestimmende Struktur auf. Solange nicht die Kenntnisse von der Natur der Massengesellschaft erweitert und von der Mehrheit der Menschen akzeptiert sind, wird es kaum Frieden in dieser Gesellschaft geben.

Man kann aber nicht ständig von einer Gruppe zur anderen laufen und Bewegungen und Ideen untersuchen um herauszubekommen, ob sich alles richtig entwickelt. Ein besserer Weg, Ereignisse zu verstehen, ist, vorhandene Ähnlichkeiten in der Struktur zu finden. Bei Beachtung der philosophischen Unterschiede können Verallgemeinerungen dieser Art sehr nützlich sein. Es scheint mir, daß die moderne Gesellschaft vor einer Alternative steht. Die Amerikaner werden aufgrund der Kompliziertheit moderner Kommunikations- und Verkehrsmittel in neue soziale Formen gezwungen. Das neue Stammestum konkurriert dabei mit dem Neo-Feudalismus. Der Kampf der Zukunft geht um die Rückkehr – zum Schloß oder ins Tipi.

Der Unterschied zwischen Schloß und Tipi ist sehr groß und doch bestehen Ähnlichkeiten, die es erschweren, sie zu unterscheiden. Beide bieten gesellschaftliche Identität und wirtschaftliche Sicherheit innerhalb eines bestimmten gemeinschaftlichen Systems. Wobei der ausgleichende Prozeß innerhalb der Stammesform die erbliche Kontrolle über eine soziale Pyramide verhindert, die feudalistische Form aber die Effizienz besitzt, Technologien zu schaffen und zu kontrollieren. Beides brauchen wir, wenn wir Herren der Maschine bleiben wollen, anstatt uns zu unterwerfen.

Viele Menschen können und wollen die Rückkehr zum Schloß unterstützen. Wir haben Camelot überlebt und die universale Sehnsucht nach seiner Wiederkehr. Die Masse der korporativen Unternehmerorganisationen hat uns weit in Richtung Neo-Feudalismus getrieben. Andererseits weist das beständige Scheitern des totalen Wirtschaftssystems beim Versuch, der Bevölkerung wie den Korporationen zu helfen, auf die Notwendigkeit, soziale Ziele mehr in Einklang mit einer stammesmäßigen oder gemeindebildenden Lebensweise anzusteuern.

Stammestum kann nur als Mosaik dargestellt werden.

Eine solche Darstellungsweise ist neuartig. Keine einzelne Idee führt notwendig zur nächsten. Die Gesamtheit des Stammestums hängt solchermaßen auch nicht von der Annahme einer einzelnen These ab. Auch wenn Ereignisse und Ideen einem nicht unmittelbar einsichtig sind, löscht die Zeit sie deswegen nicht völlig aus, sondern bewahrt sie für spätere Problemlösungen.

Nachdem ich die sozialen Probleme von verschiedenen Seiten betrachtet habe, kann ich daraus nur eine Schlußfolgerung ziehen: Amerika braucht eine neue Religion.

Fast jedes Ereignis, fast jede Bewegung heutzutage erfüllt ansatzweise diese Rolle, nichts aber hat den zentralen Zugriff, der es ermöglichen würde, Wurzeln zu schlagen und zu überleben. Ich schlage keineswegs eine Rückkehr zum Christentum vor. Diese »Religion« hat 2000 Jahre Heuchelei und Blutvergießen hinter sich und kaum etwas anderes bewirkt, als Menschen in Maschinen zu verwandeln.

Wir stehen wahrscheinlich an der Schwelle eines Zeitalters, wo religiöses Fühlen durch festen Zusammenhang mit den Werten rassischer und ethnischer Gruppen ausgedrückt wird. – Verweltlichung religiöser Gefühle, ausgedrückt in politischer Aktion.

Sollte meine Schlußfolgerung stimmen, ist es notwendig, den indianischen Standpunkt klarzumachen; Verallgemeinerungen unter dem Gesichtspunkt, wie gleich wir alle sind – alle Menschen –, sind heutzutage unnütz. Gültige Ansichten, eine neue Logik, und verschiedene Ziele definieren uns. Was wir tun können, ist, versuchen zu vermitteln, was für unser Gefühl das Selbstverständnis unserer Gruppe darstellt und welche Beziehungen wir zu anderen Gruppen haben. Einander als verschiedene Menschen zu verstehen, ist die wichtigste Sache überhaupt.


Was den Standpunkt betrifft, gibt es wirklich einen Unterschied. Eines Tages erzählte ein Mann seinem Sohn von seinen Kriegserlebnissen: »Wir waren umzingelt von Tausenden von Feinden. Kugeln pfiffen um unsere Köpfe. Wir hatten kein Wasser mehr. Es gab nichts zu essen, und die Munition wurde knapp. Plötzlich hörten wir in der Ferne eine sehnlich erwartetes Geräusch – indianisches Kriegsgeschrei.«

Vine Deloria jr. (1970)


Siehe auch:


Vine Deloria: Gott ist rot