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Leisten
Sie Widerstand! Schämen Sie sich nicht, über Dinge
mitzureden, die Sie nicht ganz verstehen! Alles Wesentliche ist
nicht verstanden!
Diese Aufforderung steht zu lesen
auf der letzten Seite eines Buches, das im Jahr 1989 erschien,
was ich damals aber nicht mitbekam; es trägt den Titel Das
Grundgesetz vom Aufstieg. Vielfalt, Gemächlichkeit,
Selbstorganisation: Wege zum wirklichen Fortschritt. –
Dieselbe Aufforderung bestimmte der Autor dieses Buches zum
Leitspruch für seine eigene Todesanzeige, als er im Jahr
2000 schwer erkrankte und wusste, dass er nur noch kurze Zeit zu
leben hatte.
Als ich die Todesanzeige – für
mich überraschend – kurz nach Weihnachten 2000 in
meinem Briefkasten vorfand, war ich erst fassungslos und dann
empört: Warum musste ausgerechnet dieser Mann schon mit 67
Jahren sterben?! Ich hatte mir noch jede Menge öffentlicher
Wortmeldungen von ihm erhofft!
Der
Wanderprediger
Genauso überraschend, wie er
für immer fortging, war er in meine Gedankenwelt
eingetreten: durch einen Radiovortrag. Das geschah an einem
Herbstabend des Jahres 1997. Ich hatte mir für diesen Abend
vorgenommen, mich über den Geschirrberg in der Küche
herzumachen. Um nebenbei vielleicht eine geistreiche Radiosendung
hören zu können, schaltete ich auf gut Glück
meinen bevorzugten Wort-Radio-Sender an. – Da sprach
tatsächlich gerade jemand im Vortragston. Und zwar so, dass
ich nach wenigen Minuten meinen Spülschwamm beiseite legte,
mich neben das Radio setzte und nichts anderes mehr tat als
zuhören.
Der Mann sprach von einem Zeitproblem, das
ihn seit zwanzig Jahren beschäftige, das aber von seinen
Zeitgenossinnen und Zeitgenossen kaum gesehen würde, obwohl
es immer dringender werde. Es ging dabei nicht um das
persönliche, individuelle Zeitmanagement, nicht darum, dass
unsere Zeit nun mal eine schnell-lebige ist und man zusehen muss,
wie man die eigene Zeit richtig nutzt, um mithalten zu können
und nicht vor die Hunde zu gehen. Hier war ein
systemtheoretisches Zeitproblem gemeint, das mit logischer
Notwendigkeit aus dem Schöpfungsprinzip der Evolution
erwächst und genau die Instabilitäten erzeugt, die uns
heute global bedrohen. Hier ging es um die globale Lage der
Menschheit und die kritische Destabilisierung dieser Lage, die
dadurch entsteht, dass etwas zu schnell geworden ist, und zwar in
globalem Ausmaß, sodass die Evolution auf Erden keine Zeit
mehr hat, »aufwärts« führende Möglichkeiten
zu »ertasten« und zu erproben. Er nannte das Problem
die „Globale Beschleunigungskrise“.
In der
Mitte seines Lebens, so der Vortragende, sei ihm plötzlich
bewusst geworden, dass fast alles, was er als Kind lieben gelernt
hatte, gar nicht mehr da war. Inzwischen habe er feststellen
müssen, dass seine Kinder diese Erfahrung bereits am Ende
ihrer Schulzeit machten. Da sei offenbar ein Problem: Viel
schneller könne es ja wohl nicht werden. Trotzdem hieße
es aber bei jedem Problem, mit dem wir konfrontiert werden: Wir
brauchen schnellere Innovationen und natürlich obendrein
noch stärkere globale Vereinheitlichung, dann werden wir die
Probleme schon lösen. Gleichzeitig habe sich gezeigt, dass
die beschleunigte Problemlösung die Zahl der Probleme
vermehrt, anstatt sie zu vermindern, und die Ausdehnung der neuen
Probleme vergrößert, anstatt sie einzugrenzen, wodurch
die Probleme immer globaler und immer noch dringender werden und
einer immer noch eiligeren Lösung bedürfen. Dieses
Systemverhalten würde jeder Naturwissenschaftler als
»Instabilität« bezeichnen, aber
merkwürdigerweise nenne man es in unserer Gesellschaft immer
noch »Fortschritt«!
In der folgenden knappen
halben Stunde wurde mir die globale Beschleunigungskrise erklärt,
jene unvermeidliche globale Systemkrise, die, wie es aussieht, in
unserer Zeit ihren Höhepunkt erreicht, an dem sich
entscheidet, ob der vom Menschen angeführte Fortschritt auf
diesem Planeten weiter »aufwärts« führt zu
immer »höherer«, immer raffinierter
eingespielter Komplexität, oder ob er »abwärts«
taumelt zu immer komplizierteren, immer dringenderen Problemen,
immer mehr Zerstörung, immer mehr Entropie.
Seltsamerweise
machte der Vortragende für die Entstehung des Problems gar
nicht die Menschen verantwortlich: Diese Beschleunigungskrise sei
eine logische Folge des Schöpfungsprinzips der Natur, ein
Stadium, in das die Evolution auf einem räumlich begrenzten
Planeten zwangsläufig geraten müsse, wenn sie
erfolgreich sei! Der Mensch sei als »Anführer an der
Front der Evolution« zunächst einmal nur der
Symptomträger, durch den die Krise sichtbar werde.
Gleichzeitig sei der Mensch aber auch in der Lage, diesen
systemtheoretischen »Sachzwang« zu erkennen und sich
durch die Erkenntnis davon zu befreien. Die unvermeidliche Krise
bedeute nicht den unvermeidlichen Untergang der menschlichen
Zivilisation, sondern zunächst nur das Scheitern einiger bis
dato »realistischer« Fortschritts- und
Wachstumsideen, die – was immer deutlicher sichtbar werde –
einen Circulus vitiosus antrieben, einen Teufelskreis; an ihrem
Höhepunkt eröffne sie aber mit großer
Wahrscheinlichkeit auch die nötigen Freiheitsgrade, um dem
Teufelskreis zu entkommen. Es komme jetzt darauf an, die
Grundbedingungen für einen gelingenden Fortschritt zu
verstehen. Die rettenden Einsichten seien zum Glück nicht
schwer zu erlangen und würden mit dem Fortschreiten der
Krise auch immer deutlicher sichtbar.
»Vielfalt«
und »Gemächlichkeit« – das waren die
Merkwörter, unter denen der Vortragende diese
Grundvoraussetzungen für eine nachhaltige Wertschöpfung
zusammenfasste: die Vielfalt der offenstehenden Optionen und eine
gemächliche Innovationsgeschwindigkeit, die dem Neuen Zeit
lässt, sich zu bewähren oder seine Fehler zu
offenbaren. Werden diese Bedingungen erdumgreifend missachtet –
was in unserer Zeit der Globalisierung geschieht –, kommt
es zur globalen Beschleunigungskrise. Die verführerischen
»selektiven Vorteile« des Großen und Schnellen
lassen uns Menschen »an der Front der Evolution«
unvermeidlich in die Krise voranstürmen. Bis vor Kurzem
wurde dieses Wettrennen noch als kreativer Prozess erlebt. Heute
sehen wir, dass es halsbrecherisch geworden ist angesichts der
von unserem Planeten vorgegebenen »Bahnverhältnisse«.
Oder in einem anderen Bild: dass das »Boot«, in dem
wir alle sitzen, auf gefährliche Klippen zusteuert, auf eine
Stromschnelle mit unbeherrschbaren Turbulenzen, die das Kentern –
den Untergang – erschreckend wahrscheinlich werden lassen.
Oder sollten wir von einem Ozeanriesen sprechen, der, gemessen an
der Sichtweite, zu schnell unterwegs ist?
Während das
Umlenken unseres titanischen Menschenbootes vielen Insassen kaum
noch möglich erscheint, geschieht es doch bereits in einem
noch überwiegend örtlich begrenzten, aber immer weiter
um sich greifenden Umdenken. Das Umdenken allein ist keine
hinreichende Bedingung für eine tatsächliche
Kursänderung unseres kulturellen Fortschritts auf Erden,
aber eine notwendige. Es gilt ja, die »Falle« zu
begreifen, in die wir geraten sind: Das weiter anwachsende Große
und weiter beschleunigende Schnelle erzeugt mit immer größerem
Erfolg ein Wachstum, das die Begrenztheit der irdischen
»Weideflächen« ebenso wie die unerlässlichen
Fortschrittskriterien Vielfalt und Gemächlichkeit ignoriert
und daher als »maligne« bezeichnet werden muss. »Wir
leben in einem Wahnsystem!«, sagt der Vortragende im Radio.
»Was wir heute ›Wachstum‹ nennen, besteht
überwiegend aus zerstörerischen Tätigkeiten!«
Um
diesem Wahnsystem zu entkommen, muss der »Motor« der
globalen Beschleunigungskrise gebremst werden, dieses zwanghafte
»schneller und größer!« im Wettbewerb um
Lebensgrundlagen. Aber »können wir uns eine
Gesellschaft denken, in der nicht eilig vorangestürmt wird,
irgendwohin, sondern in der Menschen das tun, was die
Lebensfähigkeit erhält? Können wir das noch
schaffen?«, fragt der Vortragende, und er behauptet: Ja!
Eine solche Gesellschaft sei sogar ganz einfach zu finden, die
Gedanken lägen alle schon ganz nahe, auch in den führenden
Parteien seien gute Ideen veranlagt. Noch würden diese
rettenden Ideen viel zu zögerlich aufgegriffen, weil sie
sich angesichts der sogenannten Sachzwänge und Realitäten
utopisch ausnähmen. Sie würden aber umso
wahrscheinlicher aufgegriffen, je mehr Menschen die Krise zu
spüren bekämen. »Noch ist es nicht so weit«,
sagt der Vortragende, »aber wir leben in einer
vorrevolutionären Situation.«
Erst durch die
Schlussansage nach dem Vortrag erfuhr ich, wer da gesprochen
hatte: Peter Kafka, Astrophysiker. Der Name sagte mir nichts.
Dass ich schon vielfach über ihn hinweggelesen hatte, wurde
mir erst später bewusst: Das Buch Die Entdeckung des Chaos.
Eine Reise durch die Chaos-Theorie von John Briggs und F. David
Peat (1990), das ich bereits zweimal studiert hatte, war unter
seiner »wissenschaftlichen Beratung« aus dem
Amerikanischen übersetzt worden – so steht es auf dem
Titelblatt. Heute weiß ich, dass er selbst der unter einem
Pseudonym genannte Übersetzer und dieses Buch für mich
die perfekte Vorbereitung auf seinen Radiovortrag war.
Ich
war angestachelt und begeistert: Endlich sagt mal jemand im
Radio, was Sache ist! Und ich war offenbar nicht der einzige
Hörer, dem es so ging: Der Vortrag wurde drei Monate später
ein zweites Mal gesendet, »wegen des großen
Publikumsinteresses«, so die Ansage; eine dreiteilige
Vortragsserie und Interviewsendungen folgten. Vor allem aber
kaufte ich mir sein damals aktuelles Buch: Gegen den
Untergang.
Das Besondere an Peter Kafkas Denken war die
anschauliche, aber auch herausfordernde Art, in der er die
systemtheoretische Betrachtungsweise anwandte auf jenes
evolutionäre und gesellschaftliche Geschehen, das wir
»Fortschritt« nennen. Die daraus gewonnene
Gesamtschau der globalen Situation der Menschheit stellte er seit
der Mitte der 1970er-Jahre in Vorträgen, Artikeln und
Büchern öffentlich dar.
»Er nannte sich
einen Wanderprediger, seit Jahren trug er die Botschaft durchs
Land, die er von den Sternen, von seiner Arbeit als Astrophysiker
erhalten hatte. Von den bis in die ersten Sekunden nach dem
Urknall zurückgetriebenen Einsichten und aus der modernsten
Analyse kosmischer Komplexität entwickelte er die Forderung
an alle, bis hinab in die Niederungen der Praxis von Wirtschaft,
Energie, Boden- und Steuerrecht«, schrieb Carl Amery in
seinem Nachruf auf ihn. Und weiter: »Eigentlich berühmt
ist Peter Kafka (noch) nicht geworden; aber er gehört zu den
Großen der einzig originellen Aufklärungsbewegung des
20. Jahrhunderts, die der Wiener Evolutionsbiologe Rupert Riedl
etwas irreführend ›Abklärung‹ genannt
hat: der aus den Errungenschaften der Wissenschaft heraus möglich
gewordenen Selbstkritik der (bisher) unreflektierten
Fortschritts-Idee und ihrer dialektischen
Weiterentwicklung«.
Peter Kafka in einem anderen
Vortrag: »Das ist genau das Wesen der globalen
Beschleunigungskrise: dass global der Mensch innerhalb einer
menschlichen Lebensdauer versucht, die Welt wesentlich zu
verbessern. Das ist logisch unmöglich und führt in die
Instabilität, in der wir drinnen sind. Und der Ausweg kann
nur darin bestehen, dass wir das verstehen – und deshalb
bin ich ›Wanderprediger‹ geworden: um ein paar
Leuten das zu erzählen. Und dann müssen diese paar
Leute natürlich drüber reden und versuchen, das von
ihrem Wissen und ihrem Können und ihren Ideen her weiter zu
diskutieren, und wenn was Wahres dran ist, dann wird sich das
herauskristallisieren und wird sich in der Gesellschaft
ausbreiten. Und die Einsicht ist meiner Meinung nach so einfach,
dass es jeder verstehen kann.«
Am Ende desselben
Vortrags wurde Peter Kafka von einem Zuhörer gefragt, ob es
nicht sein könne, dass unsere Spezies sich in der Natur als
untragbar erweise und aus der weiteren Evolution wieder
ausgeschieden werde. Der Mensch wäre dann auch nichts weiter
als ein kurzes, fehlgeschlagenes Experiment der Evolution.
»Ja,
das ist richtig, so wäre das dann«, bestätigte
Peter Kafka. »Aber«, fragte er weiter, »wollen
Sie das?«
»Es geht doch nicht um das, was ich
will«, entgegnete der Zuhörer, »es geht doch um
das, was passiert!«
Darauf Peter Kafka: »Nein!
Nein! Nein! Sehen Sie, jetzt sind wir beim entscheidenden Irrtum!
Das Wollen ist genau die Stelle, an der dieses ›Tasten‹
stattfindet, das wahrscheinlich ›höher‹ führt.
Die Evolution passiert nicht irgendwo, die passiert in uns! Wir
sind die Evolution! Ihr Wollen ist genau die Stelle, an der
gesucht wird nach besseren Möglichkeiten, nach
Möglichkeiten, die sich bewähren können! Wir sind
in diesem Prozess! Wir müssen bloß mal kapieren: Wir
sind es!«
Genau darum soll es hier gehen: um eine
Stärkung des individuellen Wollens. Um das engagiert
tastende Ich vor dem Burn-out zu bewahren, vor der Resignation
angesichts schier unerträglicher Umstände und
»Fortschritte«.
(…)
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