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Geseko von Lüpke
Die Alternative

Wege und Weltbild des Alternativen Nobelpreises
Pragmatiker, Pfadfinder, Visionäre



München 2003 (Riemann); 480 Seiten; ISBN 3-570-50031-4








Unsere Weltordnung ist in einem dramatischen Wandel begriffen. In der Dritten Welt wird der Teufelskreis aus Armut, Abhängigkeit mangelnder Bildung und ökologischer Zerstörung immer bedrohlicher. Selbst die hochentwickelten Staaten des Westens stehen in zunehmendem Maße vor strukturellen Problemen. Für sinkende Sozialstandards, ausgeplünderte öffentliche Haushalte, unbezahlbare Gesundheitssysteme oder die sich öffnende Schere zwischen Reich und Arm sind weltweit keine systemerhaltende Lösungen in Sicht. Unzufriedenheit und fehlende Lebensperspektiven prägen das Bild einer No-Future-Gesellschaft, die mit Zynismus, Suchtverhalten und dramatisch steigendem Drogenkonsum die Realität ausblendet.

Doch es gibt Spuren in eine bessere Zukunft, die vom öffentlichen Bewusstsein bislang nur wenig wahrgenommen werden. Seit 1980 arbeiten Jakob von Uexküll und seine „Right Livelihood Foundation“ daran, den interessantesten Zukunftsprojekten in aller Welt mit dem Alternativen Nobelpreis Publizität zu verschaffen.

Geseko v. Lüpke beschreibt das ökologische, kooperative Weltbild, auf dem die alternativen Initiativen beruhen. Er definiert die Kernprobleme, vor denen wir heute stehen, im Bezug zur praktischen Arbeit der Initiativen. Statt Resignation gibt gerade die mutige Konfrontation mit Fehlentwicklungen den Projekten ihre Lebendigkeit und optimistische Stimmung. Trotz oder gerade wegen der zunehmenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme weltweit kann so etwas wie „Lust auf Zukunft“ entstehen. Der Autor beschreibt auch die Motive und inneren Kraftquellen einer Reihe von Menschen, denen der Alternative Nobelpreis verliehen wurde. Offenheit, persönliche Visionen und der Mut, hieran zu arbeiten, bilden das Potenzial, mit dem eine bessere Zukunft immer noch möglich ist.


Geseko von Lüpke


geboren 1958, arbeitete nach seinem Studium der Politikwissenschaft, Publizistik und Ethnologie sowie einer Redakteursausbildung als freier Journalist, Autor und Redakteur. Im Bayerischen Rundfunk und anderen öffentlich-rechtlichen Funkhäusern wurde er durch zahlreiche Features über ganzheitliche Ansätze in der Wissenschaft, über alternative Lebensformen, interkulturellen Dialog und Spiritualität bekannt. Er schreibt regelmäßig für die Zeitschrift „Natur & Kosmos“. Über seine initiatorische Arbeit mit Erwachsenen veröffentlichte er das Buch „Visionssuche“ (München 2000).


Inhaltsverzeichnis


Geleitwort von Jakob von Uexküll






EINFÜHRUNG






Der Alternative Nobelpreis






Zeiten des Wandels




Die drei Ebenen des Wandels







Ein neues Bild der Welt




Die Welt als Maschine




Das systemische Weltbild




Gaia – die Erde als Lebewesen




Das ökologische Weltbild







HAUPTTEIL: DIE PROJEKTE






Weltprobleme - Zukunftschancen






1

Frieden auf Erden




Die Götter des Krieges entschleiern




Frieden schaffen ohne Waffen




Lebendige Demokratie gegen strukturelle Gewalt




Flügel für die Tauben




Die Friedensextremisten




Der stille Aufstand gegen das tödliche Schweigen




Heilung der offenen Wunden




Die Demontage der nuklearen Ungeheuer







2

Von der Umwelt zur Mitwelt




Aus Liebe zu den Bäumen




Grüne Gürtel für Mutter Erde




Heilige Männer am heiligen Fluss




Vorsicht, Goldgrube




Der Abstieg vom Schöpfungsthron







3

Menschenrechte: das Fundament der Zukunft




Wir stehen alle vor Gericht“




Netzwerk der Rechte




Die Heilung zerbrochener Seelen




Schritte zu einer neuen Weltordnung




Diktatoren unter Anklage




Frauen: Gleichberechtigung und darüber hinaus







4

Vielfalt statt Einfalt




Indigene Kulturen




Die Indianer im eigenen Hinterhof




Der Kampf gegen die Biopiraten




Die Verteidiger der genetischen Vielfalt







5

Gesundheit: dynamische Balance innen und außen




Die Heilung von Systemen




Wenn Systeme auf Rot umschalten




Die Entgiftung des Alltags




Der Tod aus der Flasche




Der Aufstand gegen den Pillenkolonialismus







6

Nachhaltige Entwicklung




Der Kampf gegen die Globalisierung




Menschliche Entwicklung statt wirtschaftlicher Verwicklung







7

Alternatives Wirtschaften




Die Zukunft liegt in unserer Hand




Das Experiment des „ökologischen Kapitalismus“







8

Von der Landwirtschaft zur Agrarkultur




Die grüne Revolution frisst ihre Kinder




Ein Design für kleine Paradiese




Die Agrarkultur natürlicher Systeme




Die zweite Revolution







9

Der Kampf gegen eine strahlende Zukunft




Paradise Lost




Von Mäusen und Menschen




Der schleichende Tod




Die nuklearen Wachhunde







10

Das solare Zeitalter




Die Potenziale des Sparens




Von der fossilen zur solaren Kultur







11

Kooperative Gemeinschaften und Demokratie




Alternative Gemeinschaften




Politische Reform aus der Küche




Aus wenig viel machen




Das Experiment „Living Democracy“




Mit der Geige aus der Gosse







12

Zukunft: der Ausstieg aus dem Zeitkäfig




Zukunftswerkstätten: das Morgen selbst erfinden




Zukunftsräte: der Zukunft eine Stimme geben







AUSKLANG






Botschafter einer möglichen Zukunft




Vision und Wirklichkeit




Wurzeln des Engagements




Einsicht und Mitgefühl







Ökologische Spiritualität






Die Lust am Wandel






ANHANG






Liste der Preisträger



Quellenangaben



Literaturverzeichnis



Register



Danksagung





Leseprobe


Einführung



Der Alternative Nobelpreis






An wen werden sich künftige Generationen erinnern, wenn sie zurückblicken auf die Zeit des Jahrtausendwechsels? Welche Geschichten werden Eltern ihren Kindern von den Helden der Vergangenheit erzählen, um ihnen Vorbilder zu geben und sie zu motivieren, für den Schutz der Biosphäre, für Menschenrechte, Frieden und soziale Gerechtigkeit einzutreten? Wer werden sie sein, die Robin Hoods und Jeanne d"Arcs, die Dietrich Bonhoeffers und Sophie Scholls der Zukunft?






Werden es Menschen sein, die heute – weitgehend unbekannt – unter uns leben? Menschen, wie die englische Hausfrau Angie Zelter, die sich eines Tages entschloss, sich nicht länger von den gigantischen Atom-U-Booten im Hafen ihrer schottischen Heimat einschüchtern zu lassen, und kurzerhand begann, die atomare Abrüstung in die eigenen Hände zu nehmen, indem sie mit Schraubenzieher und Drahtschere in das Sperrgebiet eindrang und militärisches Gerät einfach ins Meer warf? Oder werden es moderne Märtyrer sein wie der Nukleartechniker Mordechai Vanunu, der nicht länger schweigen wollte, das Staatsgeheimnis des israelischen Atomwaffenprogramms an die Öffentlichkeit brachte, vom israelischen Geheimdienst verschleppt wurde und seit 16 Jahren in Einzelhaft sitzt? Vielleicht wird man sich auch an jene indischen Frauen erinnern, die es eines Tages einfach nicht mehr ertrugen, dass die alten Bäume rund um ihre Dörfer immer weiter abgeholzt wurden, ihre Arme um die Stämme legten, den anrückenden Waldarbeitern ihr Leben im Tausch für das Leben der Bäume anboten und so schließlich einen Rodungsstopp in allen Himalajastaaten durchsetzten.






Von solchen Menschen wird in diesem Buch die Rede sein, Männern und Frauen, die angesichts der Zerstörungen und Ungerechtigkeiten, der Fehlentwicklungen und Bedrohungen nicht den Kopf in den Sand steckten, sondern genau hinschauten und aktiv wurden. Menschen, die nicht darauf warteten, dass irgendwelche anderen Leute irgendwann sich des Problems annehmen würden. Ganz normale Leute, deren einzige Besonderheit darin bestand, dass sie sich von dem, was sie sahen, tief berühren ließen. So tief, dass es für sie einfacher, besser und gesünder war, etwas für die Veränderung des Unerträglichen zu tun, als weiterhin nur zuzuschauen.






Solche Menschen gibt es überall auf der Welt, in jedem Dorf, jeder Stadt, jedem Land. Menschen, die sich nicht vom No-Future-Pessimismus erdrücken lassen, aber genauso wenig vom naiv blinden Optimismus der Technokraten halten, die für jede Krise ein Patentrezept haben und der allwissenden Wissenschaft für jedes Problem eine technische Lösung zutrauen. Jakob v. Uexküll, der schwedisch-deutsche Menschenrechtler und Umweltschützer, hat für solche Menschen ein neues Wort geprägt. »Es gibt viel zu viele Möglichkeiten, als dass man Pessimist sein kann. Es gibt natürlich auch allzu viele Krisen, als dass man einfach Optimist sein kann. Ich sage immer, ich bin Possibilist, ich sehe die Möglichkeiten.«






Ein Possibilist zu sein heißt, den kritischen Zustand der Welt anzuerkennen und trotzdem das zu tun, was möglich ist. Possibilisten sagen Nein zur Zerstörung der Natur, des Lebens, der Vielfalt, der Zukunft und ja zu den Hoffnungen und Visionen, die jeder Mensch in sich trägt. Possibilisten gleichen jenen kleinen grünen Sprösslingen, die sich unaufhaltsam einen Weg durch die scheinbar undurchdringlichen Teerdecken der versiegelten Naturflächen suchen und mit ihren Wurzeln irgendwann die dicksten Mauern sprengen können. »Wollen wir denn wirklich als kriminelle Monster in die Geschichtsbücher unserer Enkel eingehen, weil wir ihre Welt zerstört haben, weil wir ihre Möglichkeiten nicht genutzt haben, um eine positive Zukunft zu bauen?«, fragt Jakob v. Uexküll: »Ich glaube das will keiner, und dann wird es Zeit, dass wir etwas tun.«






Und es geschieht längst etwas: je mehr sich die ökologischen, sozialen und politischen Krisen in den letzten 30 Jahren verschärft haben, desto häufiger hat jener eigenartiger Menschenschlag seine Kreativität entdeckt und sich auf den Weg gemacht, andere Wege in die Zukunft zu suchen. Neue Wege der wirtschaftlichen Entwicklung, des Schutzes der Natur, der Energiegewinnung, der Ermutigung.






Kein Bericht über die alternativen Ansätze der Possibilisten kann den Anspruch der Vollständigkeit haben. Und doch gibt es seit über zwei Jahrzehnten eine Stiftung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die besten und viel versprechendsten dieser Initiativen für eine nachhaltige, ökologisch verträgliche und gerechte Welt der Zukunft aufzustöbern, bekannt zu machen und zu fördern: die schwedische »Right Livelihood Foundation«, die Jahr für Jahr vier Projekte oder Persönlichkeiten mit dem Right Livelihood Award, dem Preis für die richtige Lebensweise auszeichnet. Einem Preis, der schon nach wenigen Jahren als eine der bedeutendsten Auszeichnungen der Welt galt und allgemein als Alternativer Nobelpreis bezeichnet wird. Dieses Buch über alternative Wege in eine nachhaltige Zukunft basiert auf der Arbeit jener rund hundert Gruppen und Einzelpersonen, die den Alternativen Nobelpreis in den letzten 22 Jahren erhalten haben. (...)






Die Right-Livelihood-Stiftung wurde von Jakob v. Uexküll Ende der 70er-Jahre gegründet. Er hatte an verschiedenen internationalen Konferenzen teilgenommen und mit Erstaunen festgestellt, dass die Kosten der Organisation solcher Begegnungen oft höher waren als die Summe, die für die Bewältigung der besprochenen Probleme bereitstand. Doch am Rande dieser Veranstaltungen begegnete er immer wieder Menschen, die – meist unbeachtet von der Öffentlichkeit – an Projekten arbeiteten, die sehr viel versprechende und praktische Lösungen für den Umgang mit der Umweltzerstörung, dem Verlust an fruchtbaren Böden, sozialen Ungerechtigkeiten, dem Mangel an Menschenrechten oder der Zerstörung indigener Kulturen erprobten.






Er schrieb an die schwedische Nobel-Stiftung und bot sein persönliches Vermögen an, um einen neuen Nobelpreis für die Umwelt zu ermöglichen, mit dem ebensolche Projekte ausgezeichnet werden sollten. Doch der konservative Vorstand der Nobel-Stiftung winkte ab, obwohl erst wenige Jahre zuvor der neue Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften eingeführt worden war: Es bestehe kein Interesse an einem solchen Preis. Jakob v. Uexküll, der von seiner Idee überzeugt war, entschied sich daraufhin, mit einer eigenen Stiftung einen eigenen Preis für die richtige Lebensweise auf den Gebieten der Arbeit für den Frieden, der nachhaltigen Entwicklung, der Erhaltung der Umwelt, der Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit und der Förderung der Menschenrechte auszuschreiben. Als finanzielle Grundlage der Stiftung diente zunächst der Erlös aus dem Verkauf einer Briefmarkensammlung.






1980, im ersten Jahr der Preisverleihung, suchte v. Uexküll die Preisträger noch selbst aus, die improvisierte Zeremonie fand in einer kleinen angemieteten Halle vor 35 geladenen Gästen statt. Schon im nächsten Jahr suchte eine gut besetzte internationale Jury die Hoffnungsträger aus aller Welt aus. 1985 war der Preis schon so berühmt, dass das schwedische Parlament seine Hallen für die Preisvergabe anbot, die jeweils eine Woche vor der Vergabe der Nobelpreise stattfand. Heute ist der Right Livelihood Award weltweit als »Alternativer Nobelpreis« anerkannt, Medien in aller Welt berichten regelmäßig über die Preisträger und ihre Projekte.






Doch längst schon ist der Alternative Nobelpreis mehr als nur die Summe der ausgezeichneten Projekte. Die Visionen und Ideen der Preisträger aus nunmehr 22 Jahren stehen für einen kulturellen Aufbruch in eine ganz andere, nachhaltige Welt. Gemeinsam weisen sie einen Weg aus der Sackgasse, in der die globale industrielle Wachstumsgesellschaft steckt. Sie spiegeln – wie die vielen Flächen eines Kristalls – die längst vorhandene Vielfalt der praktischen und erprobten Möglichkeiten, die schwer geschädigte natürliche Umwelt zu retten und Millionen von Menschen aus Armut, Rechtlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu befreien. Sie folgen keiner festen Ideologie – das wäre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und eines sich zu Tode siegenden Kapitalismus auch keine wirkliche Alternative. Ihre Stärke liegt in der Vielfalt.






»Natürlich ist das, worüber wir reden, komplexer, weil wir eben die Vielfalt des Lebens nicht auslassen«, sagt Jakob v. Uexküll. »Das ist ja das Problem bei der herrschenden Ideologie: Diese Fundamentalisten lassen ja keine Komplexität zu. Es gibt für sie nur ein Modell, nur einen Weg, nur ein wirtschaftliches Modell, und dieses Modell soll zudem noch alle anderen Lebensbereiche kontrollieren. Weil ihr Modell so simpel ist, ist es auch schwierig, Gegenmodelle klar darzustellen. Die Herrschaft des Geldes können sie in zwei Minuten erklären, aber mit der Vielfalt der Alterhativen muss man sich ein bisschen gründlicher auseinander setzen.«






Jede dieser »Graswurzelinitiativen« beheimatet zahllose hoch engagierte Aktivisten, die mit offenen Augen durch die Welt gehen, ihre Wunden sehen und sich entschieden haben, die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Das macht sie immer zu Vorbildern und nicht selten zu »Helden der Gegenwart«. Im Sinn haben sie solche Ehren nicht. In den allermeisten Fällen handeln sie, um ein dringendes Problem der Gegenwart zu lösen, das sie erkannt haben und lösen wollen. Doch in allen ist Hoffnung, die der erste Preisträger des Alternativen Nobelpreises, Steven Gaskin (1980), zum Ausdruck bringt, wenn er sagt:






»Wenn jemand in der siebten Generation nach uns aus einer lebenswerten, schönen und nachhaltigen Welt auf die heutige Zeit zurückschaut, dann glaube ich, dass dieses zukünftige Wesen all jenen mutigen Leuten zutiefst dankbar sein wird, die heute dafür sorgen, dass er auch übermorgen noch einen so schönen Planeten hat, um darauf zu leben.«









Zeiten des Wandels






Eines ist sicher: Wenn unsere Nachfahren in der siebten Generation aus einer gesunden, nachhaltigen und gerechten Welt tatsächlich mit Wohlwollen und Dankbarkeit auf die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts zurückblicken, dann werden sie sich staunend Geschichten von einer Zeit des großen Wandels erzählen.






In jener fernen Zukunft werden sich die Historiker den Kopf darüber zerbrechen, wie es möglich war, dass innerhalb von einem Jahrhundert sich weltweit demokratische Strukturen durchsetzten, die nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) ein großes Mitspracherecht einräumten, um gemeinsam einen großen Teil der politischen Macht und die wirtschaftliche Entwicklung zu dezentralisieren, die Regionen zu stärken und das kulturelle wie politische Selbstbewusstsein der Menschen zu stärken. Friedensforscher werden Bücher schreiben darüber, wie die vielfache atomare Overkill-Kapazität einer hochgerüsteten Welt durch öffentlichen Druck abgebaut, durch regionale Sicherheitsbündnisse ersetzt und mit vertrauensbildenden Maßnahmen auch regionale, ethnische und religiöse Konflikte gelöst wurden. Am meisten aber wird man sich an den tief greifenden kulturellen Wandel jener Zeit erinnern, der dazu führte, dass die Menschen den inneren Wert der Natur erkannten, ihre Mitwelt als großen lebendigen Organismus schützten und am Modell der natürlichen Welt Lebensformen entwickelten, die auf Kooperation, Toleranz, persönlicher Entfaltung, gesundem Wachstum, Solidarität und gegenseitiger Abhängigkeit und Hilfe beruhten.






Alles Utopie? Keineswegs! Überall auf der Welt arbeiten zahllose Menschen seit Jahren und Jahrzehnten an genau diesen Zielen und haben in kleinem Maßstab große Teile dieser Zukunft bereits verwirklicht. Diese Pioniere, die noch viel zu oft im Verborgenen arbeiten, können längst Lösungen bereitstellen, auf die dann zurückgegriffen werden wird, wenn die Krisen der Gegenwart sich so weit verschärfen, dass auch den optimistischsten Pragmatikern des Status quo die Ideen ausgehen.






»Wir stehen vor einer einmaligen Aufgabe«, sagt Jakob v. Uexküll. »Das gab es noch nie in der Geschichte der Menschheit, dass wir eine Krise hatten, die derartig global war und so viele Gebiete umfasste. Es gibt keine technologischen oder ökonomischen, sondern nur politische und psychologische Blockaden, die uns daran hindern, eine friedliche und umweltgerechte Weltordnung zu schaffen. Diese Blockade können wir überwinden. Es sind durch den Menschen geschaffene Probleme, die durch den Menschen gelöst werden können. Und die Lösungen sind da.«






Nicht auszuschließen ist dabei, dass dieser grundlegende Wandel zu einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Welt erst möglich sein wird nach einer tiefen, existenziellen Krise der Weltwirtschaft und dem weitgehenden Zusammenbruch sozialer, politischer und ökologischer Systeme im 21. Jahrhundert. Durchaus möglich, dass das auf gnadenloser Konkurrenz, uneingeschränktem Profitstreben, persönlichen Vorteilen und Machtgier basierende Weltbild der Gegenwart sich erst zu Tode siegen muss, bevor die Ideen der Pioniere für eine andere Zukunft die breite Öffentlichkeit erreichen. Denn der Wandel, den es braucht, bis die Zukunft nachhaltig wird, ist gewaltig. Darin liegen Gefahr und Chance zugleich: Trotz aller düsteren Prognosen befindet sich die Menschheit mitten in einem evolutionären Umsturz alles Gewohnten, der kaum aufregender und spannender sein könnte.






So stellt Lester Brown, Gründer des Worldwatch Institute, den Wandel der Gegenwart mahnend in eine Reihe mit den großen kulturellen Revolutionen der Menschheitsgeschichte: Nach dem Jahrtausende dauernden Übergang von der Jäger- und Sammlerkultur zur sesshaften Agrarkultur und der Jahrhunderte währenden technischen und industriellen Revolution bleiben uns jetzt nur wenige Jahrzehnte für den großen Wandel zur Nachhaltigkeit, der jeden Bereich unserer Kultur berühren und verändern wird.






»Nachhaltige Entwicklung«, »biologische Diversität«, »Förderung des lokalen Selbstbewusstseins«, »ökologisches Bewusstsein« - all diese Lockrufe des Wandels klingen hohl, weil sie nur wenig Verbindung haben zum kulturellen und politischen Alltagsgeschäft. Es scheint sogar, als wäre nur den wenigsten unserer Politiker wirklich die Dimension des radikalen Wandels bewusst, von dem sie mit ihrem polierten ökologischen Vokabular sprechen. Sie ähneln Reisenden, die sich mit einem kleinen Sprachführer in einem unbekannten Land durchschlagen und gerade einmal in der Lage sind, nach dem Weg zu fragen, dann aber die Antworten, die sie erhalten, nicht verstehen und sich noch weniger nach ihnen richten können.






Es scheint dringend erforderlich, diesem orientierungslosen Gestammel aus einem falsch verstandenen Reiseführer in die Zukunft neue Landkarten und einen tieferen Einblick in die Kultur des Wandels entgegenzusetzen. Und dieses umfassende und praktische Verständnis von Nachhaltigkeit und Ökologie wird nicht in den hochgezüchteten akademischen Denkfabriken der Regierungen entwickelt, sondern häufig an den Orten in der Welt, wo die Auswirkungen der globalen Krise am deutlichsten spürbar sind: Dort, wo die Bodenerosion die Landschaft versteppen lässt, die Verelendung in den Slums der Großstädte zunimmt, die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, die Luftverschmutzung krank macht. Zwischen diesen Praktikern, die am Bodensatz und den »Graswurzeln« des Wandels arbeiten, und den Entscheidungsträgern, die händeringend nach neuen Konzepten suchen, gilt es zu vermitteln und zu dolmetschen, um politische Bedingungen herzustellen, in denen jene viel versprechenden Experimente sich einerseits entwickeln können und andererseits als Modelle bereitstehen.






Doch nicht nur die Entscheidungsträger sind betroffen. Vielmehr befindet sich eine ganze Kultur in jenem »Ausland«, in dem alte Sicherheiten nicht mehr gelten und sich die meisten nicht mehr auskennen: Die Menschen pendeln hin und her zwischen den Mahnungen der einen und den Beschwichtigungen der anderen, sorgen und beruhigen sich, ahnen die heraufziehende Gefahr und stürzen sich aus dem Gefühl der Hilflosigkeit hektisch in die aktuellen Geschäfte des Alltags. Die dunklen Wolken, die wir auf dem Weg in die Zukunft vor uns sehen, verleiten viele dazu, jammernd am Wegesrand sitzen zu bleiben und den hoffnungslosen Zustand der Welt zu beklagen oder sich ohne Visionen abseits des Wegs in den süßen Nebel der oberflächlichen Ablenkung zu stürzen, den die Unterhaltungsindustrie der Spaßgesellschaft mit Milliardensummen bereitstellt.






(...)






Die drei Ebenen des Wandels






Im Wesentlichen findet die historische Wende gleichzeitig auf drei Ebenen statt: Dabei handelt es sich erstens um Aktionen, welche die Umweltzerstörung bremsen und den ökologischen und sozialen Zusammenbruch der industriellen Wachstumsgesellschaft hinausschieben. Zweitens wird der kulturelle Wandel von einer sorgfältigen Analyse der strukturellen Wurzeln der Fehlentwicklung geprägt, wobei gleichzeitig an der Entwicklung von strukturellen Alternativen gearbeitet wird. Drittens geht es um einen grundlegenden Wandel in unserer Wahrnehmung, unserem Weltbild und unseren Werten. Jeder, der sich dem Wandel für eine nachhaltige Zukunft verpflichtet fühlt, ist auf einer oder allen dieser drei Ebenen aktiv. Für die in diesem Buch vorgestellten Träger des Alternativen Nobelpreises gilt dies in besonderem Maße. Sie decken die drei Ebenen in exemplarischer Weise ab.






Die vordergründigste Ebene ist fraglos die des öffentlichen politischen Widerstands gegen alle Formen der Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen. Sie vollzieht sich innerhalb und außerhalb der Parteien, in Bürgerinitiativen und Verbänden, auf Demonstrationen, in den NGOs und Initiativen und arbeitet mit allen Methoden des zivilen Ungehorsams, mit öffentlichen Kampagnen, Lobbyismus und dem Aufbau politischer Gegenkräfte. Ihre hohe Bedeutung liegt darin, die für einen grundlegenden Wandel dringend benötigte Zeit zu gewinnen. Sie umfasst ein enormes Themenspektrum. Da geht es um die öffentliche Auseinandersetzung mit den ökologischen Schäden und umweltzerstörenden Technologien ebenso wie um die Durchsetzung strengerer Grenzwerte und konsequenter Umweltgesetze. Dazu gehören Bürgerinitiativen, welche die Machenschaften großer Unternehmen beobachten, genauso wie Aktivisten, die mit den Methoden des zivilen Widerstands außerhalb der Parlamente protestieren und mahnen.






Zahlreiche der im Folgenden vorgestellten Initiativen arbeiten auf dieser öffentlich sichtbaren politischen Ebene. Ihre Bedeutung für den Wandel ist enorm und ihre Arbeit schon deshalb unverzichtbar, weil sie die Beschränkungen und Mängel des vorherrschenden Systems ständig herausarbeiten und seine schlimmsten Folgen lindern.






Die zweite Ebene besteht in der Aufdeckung der zerstörenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen und der Suche nach funktionierenden Alternativen, auf deren Grundlage die Gesellschaften evolutionär umgebaut werden können. Hier geht es darum, nicht nur die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Wirtschafts- und Geldpolitik durchschaubar zu machen, sondern auch die dahinter liegenden Mythen zu hinterfragen und kleine zukunftsfähige Gegenmodelle zu entwickeln.






Das verborgene Potenzial dieser Entwicklung wurde zum Beispiel deutlich, als bei den Anti-Globalisierungs-Protesten in Seattle und Washington D.C. plötzlich wie aus dem Nichts eine breite Oppositionsbewegung auftauchte, deren einzelne Glieder schwach schienen, in der Vernetzung mithilfe des Internets aber die Kraft hatten, ein internationales Gipfeltreffen der Industriestaaten zu kippen.






Auch auf dieser Ebene ist die Arbeit für einen Wandel außerordentlich vielfältig. Hierzu gehören zahlreiche Ansätze von unterschiedlichsten Initiativen, sich in die als undurchschaubar geltenden Regeln globaler Wirtschaftssysteme, der Geld- und Finanzpolitik, der Mechanismen industrieller Landwirtschaft, der Energiepolitik oder der modernen Gentechnik einzuarbeiten. Anstatt sich weiterhin als hilfloses Opfer anonymer Mächte zu fühlen, entsteht damit erst die Fähigkeit, wirklich tragfähige Alternativen zu erdenken, neue Wertmaßstäbe und Qualitätskriterien zu entwickeln, und der Mut, Gegenmodelle auch praktisch zu erproben.






All das sind nicht nur Projekte und Programme, sondern es findet längst statt – nicht nur im kleinen dörflichen Maßstab, sondern immer öfter durch NGOs, die hunderttausende oder gar Millionen von Mitgliedern im Rücken haben. Durch sie wird von unten ein Wandel initiiert, der nicht auf entsprechende staatliche Reformprogramme wartet.






Diese zahlreichen neuen Institutionen, Verbände und Initiativen können jedoch nur in der Gesellschaft Wurzeln schlagen und langfristig wirken, wenn sie auf der Basis stabiler Werte handeln. Ihre Strukturen und Absichten müssen ein nachhaltiges Weltbild spiegeln, das auf einem neuen Verhältnis zwischen Mensch und Natur aufbaut. Mit anderen Worten: Ihr Erfolg verlangt einen grundlegenden Wandel in unserer Wahrnehmung und unseren Weltbildern. Und darum geht es auf der dritten Ebene des Wandels.






Die dritte Ebene ist die Arbeit an der Wahrnehmung und dem Bewusstsein der Menschen. Hier geht es um die Veränderung unseres Weltbildes: von einer materialistischen, mechanistischen, konkurrenzbetonten und wachstumsorientierten zu einer kooperativen, partnerschaftlichen und ganzheitlichen Sichtweise. Auf dieser – sehr breiten – Ebene entscheidet sich letztendlich, ob der Umbau gelingen wird. Dieser Wandel ist nicht in Parteien, Verbänden und Initiativen zu organisieren, doch er kann aus den Einsichten und Erfahrungen entstehen, die während der politischen und ökologischen Arbeit gemacht werden.






Die schrittweise Entstehung eines neuen Weltbildes wird aus vielen Quellen genährt. Sie war unvermeidlich geworden, als sich mit der ökologischen Krise und der Zunahme sozialer und wirtschaftlicher Probleme die Grenzen des alten Paradigmas zeigten, das die globalen Herausforderungen nicht mehr bewältigen kann. Sie wurzelt in der ganz individuellen Suche nach neuen Lebensformen, die ein Mehr an Lebensqualität und Glück über die Befriedigung materieller Bedürfnisse stellt. Sie ist untrennbar verbunden mit der verbreiteten Sehnsucht, wieder in Kontakt zu treten mit einer lebendigen Umwelt, dem Wunsch, sich rückzubinden an eine Mitwelt, die als großer, lebendiger Organismus das einzelne Individuum umgibt.






Aber sie wird auch gestützt von den Durchbrüchen und Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft – der Quantenphysik, der Kosmologie, der ökologischen Wissenschaften, der Komplexitäts- und Chaosforschung oder der Allgemeinen Systemtheorie. All diese Ansätze betonen das enge Beziehungsgeflecht, das alle gesellschaftlichen und natürlichen Phänomene als Teile eines organischen dynamischen Netzwerks sieht, in dem sich alles gegenseitig beeinflusst, voneinander abhängig ist und in einem Prozess kontinuierlicher Veränderung und Evolution befindet.






Die Entstehung eines neuen Weltbildes zeigt sich unter anderem in der Hinterfragung konventioneller Wahrnehmungs- und Denkmuster durch Therapie und Selbsterfahrung oder in der Entwicklung holistischer, systemischer, ökologischer und ganzheitlicher Theoriegebäude, um die Wirklichkeit intellektuell anders begreifen zu können. Aber auch die Wiederentdeckung uralter Erklärungsansätze traditioneller Kulturen und ihrer ganzheitlichen mystischen Überlieferungen gehört dazu.






Keiner dieser Ansätze hält fertige Lösungen oder fertige Ideologien bereit. Dieser kulturelle Wandel gleicht eher einem offenen Prozess, in dem die Eckpunkte unseres Wirklichkeitsbildes neu definiert werden. Die wenigsten dieser Ansätze sind sich gegenseitig im Wege, sie begreifen sich vielmehr untereinander als hilfreiche Bausteine in der Architektur eines neuen ökologischen Weltbildes.






Dieses Buch wird keine Antwort geben können darauf, welcher der beiden gesellschaftlichen Trends letztlich »siegen« wird, ob sich der Wandel vollzieht, bevor die lebenserhaltenden, natürlichen Systeme kollabieren. Jeder wird – je nach Perspektive – sich sein eigenes Bild vom Stand der Dinge machen. Entscheidend ist, dass der Wandel längst passiert und vielleicht schon viel weiter fortgeschritten ist, als die meisten glauben. Diesen Wandel gilt es sichtbar zu machen. Das kann dazu beitragen, die offene oder versteckte »No-Future«-Haltung der Pessimisten und Zweckoptimisten aufzubrechen. Wir befinden uns nicht am Ende der Zeiten. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Menschen der Gegenwart gleichzeitig als Sterbebegleiter einer alten Welt und als Geburtshelfer einer neuen Welt gefordert sind.


Siehe auch:


Geseko von Lüpke, Peter Erlenwein: Projekte der Hoffnung Der Alternative Nobelpreis: Ausblicke auf eine andere Globalisierung



Geseko von Lüpke: Politik des Herzens. Nachhaltige Konzepte für das 21. Jahrhundert. Gespräche mit den Weisen unserer Zeit.



Geseko von Lüpke: Altes Wissen für eine neue Zeit – Gespräche mit Heilern und Schamanen des 21. Jahrhunderts



Geseko von Lüpke: Zukunft entsteht aus KriseAntworten von Joseph Stiglitz, Vandana Shiva, Wolfgang Sachs, Joanna Macy, Bernard Lietaer u.a.



Geseko von Lüpke im Gespräch mit Gabi Toepsch (BRalpha/PDF)



www.rightlivelihood.org/



http://de.wikipedia.org/wiki/Alternativer_Nobelpreis



Liste der Träger des Alternativen Nobelpreises (Wikipedia)



www.worldfuturecouncil.org



Alles Globale hat lokale Wurzeln– Geseko von Lüpke im Gespräch mit der indischen Physikerin Dr. Vandana Shiva



Herbert Rauch / Alfred Strigl: Die Wende der Titanic – Wiener Deklaration für eine zukunftsfähige Weltordnung



Jerry Mander / John Cavanough (Hrsg.): Eine andere Welt ist möglichAlternativen zur Globalisierung



Vandana Shiva: Erd-DemokratieAlternativen zur neoliberalen Globalisierung