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Geseko von Lüpke
Zukunft entsteht aus Krise

Antworten von Joseph Stiglitz, Vandana Shiva, Wolfgang Sachs, Joanna Macy, Bernard Lietaer u.a.


München 2009 (Riemann); 320 Seiten; ISBN-10: 3 5705 0112 4; ISBN-13: 978 3 5705 0112 2






Die Krise ist allgegenwärtig. Doch es scheint, als säße die westliche Zivilisation gegenüber diesem Phänomen kollektiv gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange. Tag für Tag hagelt aus den Medien eine Krisenbotschaft nach der anderen. Wir starren auf das, was da kommen mag und verhalten uns wie gelähmt.

Dabei gibt es überall auf der Welt Wissenschaftler und Praktiker, die Lösungen und Erfahrungen für eine zukunftsfähige Gesellschaft anzubieten haben. Geseko v. Lüpke präsentiert schlüssige Zukunftsszenarios in Gesprächen mit Menschen aus zahlreichen Disziplinen, die einen verantwortungsvollen Umgang mit Krisen erforscht haben und propagieren. Zu ihnen gehören der Nobelpreisträger Prof. Dr. Joseph Stiglitz und alternative Nobelpreisträgerinnen wie Dr. Vandana Shiva, renommierte Natur- und Geisteswissenschaftlerinnen wie Dr. Joanna Macy oder Dr. Mary-Wynne Ashford, Philosophen wie Dr. Andreas Weber oder Jim Marion und Aktivistinnen wie Amy Goodman oder Frances Moore-Lappé.

Diese Dialoge gleichen einer Zukunftswerkstatt auf höchstem Niveau. Obwohl sie von den existenziellen Krisen und Risiken unserer Zivilisation handeln, machen sie Mut und sind für jedermann anregend und nachvollziehbar. Der frische Wind neuer Möglichkeiten vertreibt die stickige Luft lähmender »Realpolitik« und könnte dem diffusen Unbehagen vieler Bürger eine konstruktive, optimistischere Richtung geben.


(Klappentext)


Geseko von Lüpke


geb. 1958, Dr. rer. pol., studierte Politologie und Ethnologie, ist renommierter Journalist in Rundfunk und Printmedien sowie Autor zahlreicher Buchpublikationen - u.a. für Themen im Bereich Kultur, Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung, ökologische Ethik, Spiritualität. Im Bayerischen Rundfunk und anderen öffentlich-rechtlichen Funkhäusern wurde er durch zahlreiche Features über ganzheitliche Ansätze in der Wissenschaft, über alternative Lebensformen, interkulturellen Dialog und Spiritualität bekannt.


Inhaltsverzeichnis


Einleitung – Zukunft entsteht aus Krise
Ein neuer Blick auf das Gespenst der Gegenwart






I. TEIL: Die Dynamik von Umbrüchen








Wir sind an einem Wendepunkt, der Wandel liegt vor uns
Im Dialog mit dem Systemtheoretiker und Zukunftsforscher Prof. Dr. Ervin Laszlo








Der heilsame Einbruch des Unerwarteten
Im Dialog mit der Psychologin Ega Friedmann







II. TEIL: Paradigmenwechsel: Von der Maschine zum Organismus








Sag nie, dass etwas unmöglich ist!
Im Dialog mit dem Quantenphysiker Prof. Dr. Hans-Peter Dürr








Krisen lösen die nächste Welle der Evolution aus
Im Dialog mit der Evolutions- und Zukunftsforscherin Dr. Elisabet Sahtouris








Von der Ideologie des Toten zu den Gesetzen der Lebendigkeit
Im Dialog mit dem Biologen und Philosophen Dr. Andreas Weber








An der Schwelle zu einem pluralen integralen Bewusstsein
Im Dialog mit dem Bewusstseinsforscher und Mystiker Jim Marion








Sterbebegleiter für das Alte – und Hebammen für das Neue
Im Dialog mit der Systemtheoretikerin und Ökophilosophin Dr. Joanna Macy








Von der Logik des Verstandes zur Logik des Herzens
Im Dialog mit mit dem Kulturforscher Marco Bischof







III. TEIL: Samen der Zukunft – zivilgesellschaftliche Modelle einer anderen Welt








Die globale Zivilgesellschaft als kulturelle Kraft des Wandels
Im Dialog mit dem Aktivisten für eine globale Zivilgesellschaft Dr. Nicanor Perlas








Den fossilen Öltanker durch viele Segelboote ablösen
Im Dialog mit dem Soziologen und Ökologen Prof. Dr. Wolfgang Sachs








Die Krise wird uns zur ökologischen Marktwirtschaft zwingen
Im Dialog mit mit der Quantenphysikerin und Aktivistin Dr. Vandana Shiva








Medien müssen Brücken in die Zukunft bauen
Im Dialog mit der Journalistin und Sozialaktivistin Amy Goodman








Die Welt wendet sich vom Krieg ab
Im Dialog mit der Ärztin und Friedensaktivistin Dr. Mary-Wynne Ashford








Aus der entstehenden Zukunft heraus handeln, agieren, führen
Im Dialog mit dem Soziologen und Führungskräfte-Trainer Prof. Dr. Claus Otto Scharmer







IV. TEIL: Unterwegs zu einer ökologischen Ökonomie








Es wäre ein Verbrechen, die Krise ungenutzt zu lassen
Im Dialog mit der Ökonomin und Zukunftsforscherin Prof. Dr. Hazel Henderson








Diese globale Krise verlangt nach einer globalen Reaktion
Im Dialog mit dem Nobelpreisträger für Ökonomie Prof. Dr. Joseph Stiglitz








Was uns völlig feht, ist eine Vielfalt von Geldern
Im Dialog mit der Währungsspezialistin Prof. Dr. Margrit Kennedy








Ich würde sagen: Baut Flöße!
Im Dialog mit dem Ökonomen und Tiefenpsychologen Prof. Dr. Bernard Lietaer








Wer aus einer Zukunftsvision handelt, lebt, statt nur zu agieren
Im Dialog mit dem Gründer der Sekem-Initiative, Dr. Ibrahim Abouleish







V. TEIL: Treibhäuser der Zukunft








Es geht darum, Zukünfte täglich sichtbarer zu machen
Im Dialog mit dem globalen Zukunftsaktivisten Jakob v. Uexküll








Ich handle, also bin ich
Im Dialog mit der Umwelt- und Ernährungsaktivistin Frances Moore Lappé






Nachwort – Nächste Schritte
Wenn Krisen zu Lehrmeistern werden


Leseprobe


Einleitung – Zukunft entsteht aus Krise
Ein neuer Blick auf das Gespenst der Gegenwart






Die Krise ist allgegenwärtig. Doch es scheint, als säße die westliche Zivilisation gegenüber diesem Phänomen kollektiv gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange. Tag für Tag hagelt aus den Medien eine Krisenbotschaft nach der anderen in unser Leben, Tag für Tag wird beschwichtigt, ebenso unglaubwürdig wie halbherzig. Wir starren auf das, was da kommen mag, verstehen es nicht, verhalten uns reglos wie gelähmt. Ganz so, als wäre uns angesichts dieser schwer einschätzbaren Bedrohung von den drei evolutionär antrainierten Reaktionsweisen »Angriff«, »Flucht« und »Totstellen« nur die letztere geblieben. Dieses Buch widmet sich der Tatsache, dass es eine Menge anderer Möglichkeiten gibt, um auf die Entwicklungen der Gegenwart zu reagieren.






Fraglos sind die Facetten der Krise immens. Dass sie kommen würde, hat man uns seit Langem vorhergesagt. Doch wir haben kollektiv den Kopf in den Sand gesteckt in der naiven Erwartung, dass all jenes, was wir nicht sehen wollen und verdrängen, dann auch nicht passiert. Solange die Hungerkrise nur Afrika traf, die Zerstörung der Wälder nur die Länder mit tropischem Regenwald, die Klimakrise die grönländischen Inuit und ein paar tief gelegene Gegenden in Asien oder Inselstaaten im Pazifik, haben wir sorgenvoll geschaut und allenfalls mit ein paar Spenden oder Signaturen auf Unterschriftenlisten unser Gewissen beruhigt. Dass es mit der Finanz- und Wirtschaftskrise nun zu allererst die reichen Länder des Nordens traf, hat uns trotz allem wie ein Schock getroffen. Denn die industrielle Wachstumsgesellschaft war sich in fast blindem Optimismus nach wie vor sicher, dass sie das Rezept gegen alle Unbill sicher in der Tasche habe: Geld, noch mehr Wachstum und eine alles erlösende Technologie. Diese Ansicht ist kaum mehr als eine naive Hoffnung, ein begrenztes und immer weniger brauchbares Weltbild, das ohne böse Absicht auf allen Ebenen der westlichen Kultur weitergegeben wird – in Schulen, Universitäten und Medien: das Paradigma einer Welt, die wie eine große Maschine funktioniert, von lauter einzelnen konkurrierenden Menschen bevölkert wird, die außerhalb ihrer natürlichen Mitwelt stehen und in einem sinnlosen Universum nach persönlichem Reichtum streben. Es ist ein mechanistisches und reduktionistisches Weltbild, das wie eine kulturelle Gehirnwäsche wirkt.






Teil des Ergebnisses dieser kulturellen Gehirnwäsche ist die bis in die höchsten Ebenen von Politik und Wissenschaft vertretene Überzeugung, dass die vielfältigen Krisen der Gegenwart nur sehr wenig miteinander zu tun hätten. Sie wurden separat behandelt, ganz so, als ginge ein an Immunschwäche Erkrankter zu zehn Fachärzten, die bis zum Tode des Patienten voller Überzeugung die Vielfalt der Symptome behandeln, aber nicht die gemeinsame Wurzel erkennen.






Das schon sprichwörtliche »Herumdoktern an Symptomen« hat dazu geführt, dass immer öfter gut gemeinte Reparaturen oder Reformen an einzelnen Krisenphänomenen im Gesamtbild dazu führten, dass das Ungleichgewicht zunahm. So genannte Lösungen wirkten meist nur lokal und temporär, schufen aber an anderen Orten umso größere Not, die dann langfristig auf das Ganze zurückwirkten. Der Impuls für dieses Buch entstand aus der Einsicht, dass wir uns diesen gescheiterten Ansatz heute nicht mehr leisten können. Die hier zusammengebrachten Spezialisten und Zukunftsdenker/innen gehen vielmehr unisono davon aus, dass wir uns in einer historischen Häufung von bislang separat wahrgenommenen Krisen befinden, die sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu einer – dann nicht mehr lenkbaren – Megakrise verdichten könnten, die das Überleben menschlicher Zivilisation grundsätzlich in Frage stellen würde. Sie ziehen nüchtern bedrohliche Schlussfolgerungen. Sie reden aber auch unverblümt von einem gigantischen kulturellen Veränderungsprozess durch das absehbare Ende fossiler Rohstoffe, der ganz zwangsläufig in solare, regionale Ökonomien, ganz neue Infrastrukturen und eine globale ökologische Landwirtschaft führen wird. Sie reden jenseits fortgesetzter Verdrängung nüchtern von einem »besseren Leben auf einem heißeren Planeten«, der vorher allerdings wegen der steigenden Meeresspiegel Wanderungsbewegungen bewältigen muss, wie es sie bislang in diesem Ausmaß noch nie gab. Sie reden mit erfrischendem Optimismus von der Möglichkeit einer kulturellen und geistigen Evolution, die in ganz neue Formen der Wahrnehmung, des Denkens und des gesellschaftlichen Gestaltens führen könnte.






Um die Wende in eine nachhaltige, gerechte, friedliche, lebenswerte Welt zu schaffen, gilt es, den immer komplexer werdenden Problemen nicht länger mit unverändert Krisen erschaffendem Handwerkszeug zu begegnen und aus dem Gefängnis beschränkten Denkens auszubrechen.






Statt Gesellschaften, Ökonomien oder Ökosysteme als unbewegliche Objekte zu sehen, die am besten zu handhaben sind, wenn sie stabil und fixiert sind, zieht sich wie ein roter Faden durch die gesammelten Gespräche dieses Bandes eine grundlegend andere Weltsicht, die von einem systemischen Zusammenwirken vielfältiger interdependenter Entwicklungsdynamiken, vom stetigen Wandel, Differenzieren, evolutionären Weiterentwickeln ausgeht. Wer aber – wie schon Heraklit – davon überzeugt ist, dass man niemals zweimal in den gleichen Fluss steigen kann, der muss auch seinen gegenwärtigen Standpunkt inmitten dieses sich ständig evolutionär verändernden Flusses bestenfalls als Momentaufnahme begreifen. Eine Momentaufnahme, welche die Optionen öffnet, angesichts der gegenwärtigen Strömung in verschiedene Richtungen zu schwimmen: gegen den Strom, mit dem Strom, an den langsameren Rand des Stromes. Man kann auch im Strom untergehen. Das aber, was in dieser Analogie völlig unmöglich ist, wäre das Einfrieren des Flusses, die Unbeweglichkeit, die Fixierung eines Status quo. Sie widerspricht aller evolutionären Dynamik. Doch diese Lösung ist genau jene, die heute von Politik und Ökonomie vorwiegend versucht wird: Minimale, isoliert eingesetzte, angstgesteuerte Maßnahmen, die nicht die Gesamtströmung als verändernde Dynamik aufgreifen, sondern nur stabilisieren wollen und statt anderer Zukünfte eigentlich nur die Illusion der Kontrolle wiederherstellen wollen.






Worum es hier also im Kern geht, ist eine radikale neue Sicht auf den Begriff der Krise. Während die traditionelle Weltsicht und die daraus entstehende Politik Krisen ausschließlich als bedrohliche Betriebsunfälle wahrnimmt, gehen die hier vorgestellten Pioniere und Aktivistinnen davon aus, dass in Krisen das entscheidende und hoffnungsvolle Element des Wandels verborgen ist. Obwohl der Slogan der »Krise als Chance« schon seit Jahrzehnten durch die Psychologie geistert und in zahllosen therapeutischen Settings individueller Entwicklungskrisen erfolgreich angewendet worden ist, hat dieser Denkansatz Politik und Wirtschaft bislang nur in Ausnahmen erreicht. Vielleicht deshalb, so vermutet in diesem Buch die Psychologin Ega Friedmann, weil kollektive Krisen uns Betroffene mit einem Gefühl von Ohnmacht konfrontieren, das wir gerade noch ertragen, indem wir uns vormachen, dass es uns nicht trifft.






Wenn scheinbar stabile Bäume umgeworfen werden, so sagt die alternative Nobelpreisträgerin und Aktivistin Frances Moore Lappé, dann ermöglichen sie einen Blick auf die ansonsten verborgenen Wurzeln und ihren Zustand. Diese Metapher macht deutlich, dass wir uns durchaus in einem heftigen Sturm befinden, bei dem einiges zu Bruch geht – dass wir aus diesem Chaos und dem Kleinholz, das der Sturm hinterlässt, aber nicht nur etwas lernen, sondern sogar eine neue Zukunft bauen können. Krisen, das will diese Analogie sagen, enthalten die Möglichkeit, die Schatten und Schwächen eines Systems zu erkennen, die bislang den meisten verborgen blieben. Krisen sind aus dieser Perspektive kein Schrecken, sondern ein letztlich begrüßenswertes Zeichen eines Übergangs.






Krisen müssen keine Katastrophen sein. Das Wort Katastrophe bezeichnet im Griechischen die gefährliche Kurve bei antiken Wagenrennen im Stadionrund, an der so mancher Wagenlenker sein Gefährt zum Kippen brachte. Das Wort ist damit aber keine Aufforderung zum Stillstand, sondern zur Achtsamkeit beim Richtungswechsel. Genau der findet statt und steht uns weiter bevor. Im medizinischen Sprachgebrauch kennzeichnet das Wort Crisis den Höhepunkt einer Krankheit – nicht aber den überraschenden Ausfall problemlos funktionierender Organe. Ob sprachgeschichtlich oder wissenschaftlich: Überall werden wir darauf verwiesen, dass Krisen eine notwendige Stufe in Transformationsprozessen darstellen, in denen komplexe Systeme, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, sich auf dem nächsthöheren Niveau eine neue Balance suchen. Die Evolutionstheorie, der wir ansonsten gerne folgen wie einer wissenschaftlichen Religion, sagt genau dies. Sie spricht von Mutation und Selektion als Voraussetzung für evolutionäres Vorwärtsschreiten und meint nichts anderes als den krisenhaften Auswahlprozess zwischen gelungenen und misslungenen Zukunfts- und Lebensentwürfen. Elisabet Sahtouris, griechisch-amerikanische Evolutionsbiologin und Zukunftsforscherin, verweist uns darauf, dass ihre Kollegen die gegenwärtige Krisendynamik und ihre Konsequenzen als die sechste große Welle des Aussterbens in der Geschichte des Planeten kategorisieren. Der Umbruch der Gegenwart steht damit auf einer Ebene mit der evolutionären Erfindung der Photosynthese oder der Mutation zur Lungenatmung. Wir befinden uns angesichts dieser Vergleiche an einem zeitgeschichtlichen Übergang von enormen Dimensionen, der ebenso viel Risiko beinhaltet wie Potenziale für vollständig neue Entwicklungen. Den oftmals schwierigen Alltag in einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise auch nur zeitweise in einen solchen evolutionären Kontext zu stellen, kann uns aus der Opferrolle herauskatapultieren und deutlich machen, an welch bedrohlicher, aber zugleich ungeheuer aufregenden Zeit wir teilnehmen und welch evolutionäre Zukunftsentwürfe wir gestalten können.






Ob diese Entwürfe im Sinne der Evolutionstheorie Mutationen sind, die sich durchsetzen oder von der Selektion hinweggefegt werden, ist offen. Es muss offen bleiben, weil wir uns sowohl angesichts eines absehbaren Scheiterns aller Bemühungen als auch bei einem sicher erscheinenden Durchbruch in eine lebensfähige Zukunft kaum noch engagieren würden. Ein unabwendbarer Zusammenbruch würde uns in einer No-Future-Lethargie versinken lassen, ein naiver Zukunftsoptimismus uns zum gefährlichen »Weiter so!« verleiten. Wir brauchen also, um aktiv zu werden und das Not-Wendige zu tun, die Krise als Handlungsimpuls, als Motivationsschub, ja als Treibstoff für unsere Kreativität. Ohne Krise, so lässt sich demnach sagen, wäre uns der langfristige Untergang gewiss.






Aus dieser Sicht ist das Phänomen der Krise eine absolute Notwendigkeit, um im Lauf der Dinge einen Schritt in eine Zukunft zu machen, die sich deutlich und innovativ von der Vergangenheit unterscheidet. Es verlangt nach einer kulturell wirklich verankerten Würdigung von anstrengenden Widersprüchen, schmerzhaften Gegensätzen, spannungsgeladenen Reibungsflächen. Es verlangt statt eines Ausweichens vor der Krise eine Bereitschaft, der Krise ins Auge zu schauen und den Mut die Krise zu nutzen. Die amerikanische Ökonomin Hazel Henderson erklärte im hier abgedruckten Dialog, es sei »a crime to waste a crisis« – ein Verbrechen, eine Krise ungenutzt vorbeigehen zu lassen. Dieses Buch zeigt in einundzwanzig Gesprächen auf, dass Zukunft heute im Wesentlichen aus Krisen entsteht, weil sich in Zeiten von Umbrüchen das Neue am ehesten durchsetzen kann. Denn dann zerbröseln bislang angenommene Wahrheiten wie morsches Holz, die Sehnsucht nach Änderung wächst und scheinbare Stabilitäten erweisen sich als wackelig. Der Widerstand gegen unbekannte Alternativen sinkt, wenn Systeme unter ihrem eigenen Gewicht kollabieren. Wann, wenn nicht in solchen Momenten, kann das Neue Fuß fassen?






Die Chaostheorie hat mit der Metapher, dass der Schlag eines Schmetterlingsflügels in Europa einen Orkan in Amerika auslösen kann, die Welt verändert. Denn was diese Metapher in ihrer Unglaublichkeit ausdrückt, ist die Tatsache, dass der globale Zustand des Fließgleichgewichts so extrem labil ist, dass ein minimaler Impuls an einem Ort Effekte auslösen kann, die ganz unerwartet woanders kolossale Auswirkungen haben können. Die Schmetterlingsmetapher ist ein wissenschaftlicher Schlag ins Gesicht all jener, die auf Stabilität und Sicherheit setzen wollen. Diese Sicherheit gibt es nicht, sie ist im komplexen Netzwerk des Lebens nicht existent. Es gibt sie nur in unseren Köpfen. Bislang hat uns diese Metapher Angst gemacht, denn sie spricht von Kontrollverlust, nicht abschätzbarer Interdependenz und schließlich auch von gewaltigen Stürmen. Und Stürme sind Krisen. Trotzdem gilt es diese Metapher aufzugreifen und vielleicht ganz neu zu definieren. Denn es geht darin auch um die enorme Wandlungskraft von Krisen. Wir sollten darüber nachdenken, wie die Krise der etablierten Wirtschaft und ihres Geldsystems genutzt werden könnte, um im positiven Sinn andere Zukünfte zu erschaffen. Die systemimmanente Destabilisierung des Systems ermöglicht gerade jetzt Reformen, die ansonsten nur belächelt worden wären.






Zu dieser Neubewertung von Krisen gehört schließlich auch, den Zustand der Unsicherheit und der Ungewissheit, in dem sich die Gesellschaft zurzeit befindet, in seiner Normalität zu erkennen und zu würdigen. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Menschen krisenhafte Übergänge erlebt und diese Veränderungen kreativ gestaltet. Es mag überraschend klingen, aber das uralte Wissen um Übergangsrituale kann einiges dazu beitragen, den gegenwärtigen Krisenzustand besser zu verstehen. Traditionelle Kulturen haben verstanden, dass individuelle Transformation durch einen Prozess von Tod und Wiedergeburt zu gehen hat, bevor das Neue greifen kann. Sie entdeckten, dass der Übergang von einer Lebensphase zur nächsten eingeleitet wird, wenn die alten Erklärungs- und Verhaltensmuster nicht mehr greifen und eine Krise entsteht. Dieser Zeitraum des Übergangs ist oftmals schmerzhaft und extrem verunsichernd. Der gesellschaftliche Übergang, in dem wir uns kollektiv befinden, nachdem die alten Überzeugungen und Lösungsansätze nicht mehr greifen, ist es nicht minder.






Aber die Schwellenphase ist unabdingbar, um zu einer tieferen Wahrheit und den verborgenen Potenzialen durchzubrechen. Claus Otto Scharmer, Soziologe am renommierten MIT [Massachusetts Institute of Technology] und Krisenmanager bei internationalen Unternehmen, verweist in diesem Buch auf nichts anderes: Wir brauchen den krisenhaften Kontrollverlust, um die Zukunft erahnen und begreifen zu können, die dahinter durchscheint. Auch hier zeigt sich, dass Krisen nicht das Ende bedeuten, sondern eine universelle Dynamik haben, mit der sich arbeiten lässt.






Dieses Buch besteht aus Gesprächen mit Menschen aus zahlreichen Disziplinen, die einen anderen Umgang mit Krisen erforscht haben und propagieren. Zu ihnen gehören Nobelpreisträger und alternative Nobelpreisträger, renommierte Natur- und Geisteswissenschaftlerinnen, Philosophen und Aktivistinnen aus fast allen Bereichen der Zivilgesellschaft. Letztere nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Denn alle grundsätzlichen Reformimpulse der Gegenwart gehen nicht von den staatlichen Institutionen aus, deren Aufgabe es ist, den Status quo zu schützen. Sondern sie kommen in der Regel von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die unabhängig von den Zwängen des Status quo wegen der sie bedrohenden Krisen voller Engagement an neuen Modellen arbeiten – und damit die Zukunft entwerfen. Dieses Buch plädiert für eine innovative neue Form der partizipativen Zukunftsforschung, indem es Pioniere eines nachhaltigen, zukunftsfähigen Denkens und Handelns vorstellt. Sie alle machen auf verschiedene Art und Weise deutlich, wie die wachsende soziale Instabilität, die Krise der Finanzmärkte, das Welthungerproblem, die globale Erwärmung und die geistig-spirituelle Werte- und Orientierungskrise Teile einer gemeinsamen Dynamik sind.






Wir brauchen ein neuartiges Verständnis vom Aufbau der Welt und Wirklichkeit, das sich grundlegend vom linearen, monokausalen Weltbild mit seiner prognostizierbaren Zukunft unterscheidet. Wird die organische, eng vernetzte, sich selbst erschaffende und hoch dynamische Struktur des Lebens erkannt und verstanden, dann wird deutlich, dass die Etablierung von anderen Zukünften, der Aufbau einer neuen Kultur, der Umbau der Landwirtschaft, das Ende der globalisierten Gewalt, die Potenziale für eine neue Ökonomie, die Revolutionierung des zwischenmenschlichen Umgangs Teile eines umfassenden kulturellen Wandels sind, der zurzeit stattfindet. In diesem Verständnis befinden wir uns nicht am krisenhaften »Ende der Zeiten«, sondern inmitten eines herausfordernden und nicht ungefährlichen Transformationsprozesses, der erkannt werden muss, damit er gestaltet werden kann. Anstatt jede Krise durch mehr Bewahrung des Status quo und die verzweifelte Stabilisierung zerbrechender Strukturen unbewusst zu verstärken, geht es darum, Chaos und Krise als große Chancen radikaler Veränderungen zu nutzen.






Die Krise, dieses Gespenst der Gegenwart, lässt sich auch wie eine große Welle der Veränderungen verstehen, auf der es sich zu surfen lohnt. Voraussetzung aber ist die grundlegende Neubewertung des Krisenbegriffs. Im Internet haben sich kreative Programmierer den Spaß erlaubt, ein Programm zu entwickeln, das immer dann, wenn irgendwo der Begriff »Krise« auftaucht, stattdessen den Begriff »Chance« einsetzt.* Die Idee ist gut, aber damit ist es nicht getan. Wir müssen die Veränderung mit Kopf, Körper und Seele verstehen, um sie ins Leben zu bringen. Dazu lade ich Sie persönlich ein, da uns diesen Schritt niemand abnehmen kann.






Olching im Juli 2009
Geseko v. Lüpke






* https://addons.mozilla.org/en-US/firefox/addon/11381


Siehe auch


Geseko von Lüpke: Die Alternative. Wege und Weltbild des Alternativen Nobelpreises. Pragmatiker, Pfadfinder, Visionäre



Geseko von Lüpke, Peter Erlenwein: Projekte der Hoffnung Der Alternative Nobelpreis: Ausblicke auf eine andere Globalisierung



Geseko von Lüpke: Politik des Herzens. Nachhaltige Konzepte für das 21. Jahrhundert. Gespräche mit den Weisen unserer Zeit.



Geseko von Lüpke: Altes Wissen für eine neue Zeit – Gespräche mit Heilern und Schamanen des 21. Jahrhunderts



Geseko von Lüpke im Gespräch mit Gabi Toepsch (BRalpha/PDF)